Hinterlader - Fahrräder mit 60 ccm Saxonette-Radnabenmotor
Autor: Hannes Denzel
Jeder fünfte österreichische Radfahrer benutzt heute bereits ein E-Bike, sagt die Statistik. Fahrräder mit eingebautem Rückenwind sind also im Trend und werden von der Industrie als Stein der Weisen verkauft.
Wie das aber mit den Steinen halt so ist,
wenn man tief genug gräbt, wird man nicht nur auf alte Sedimente, sondern auch auf den Spruch „alles schon mal dagewesen“ stoßen. Und tatsächlich: Schon vor dem Ersten Weltkrieg und auch danach wieder waren die Hilfsmotoren weit verbreitet. Es gab sie als Clip-On-Einheiten mit Riemenantrieb als über dem Hinterrad befestigte „Arschwärmer“ oder als Radnabenmotoren. Um letztere aufzuspüren, müssen wir uns beim Schaufeln gar nicht so anstrengen, zwischen 1987 und 2011 hatte Hercules ein hilfsmotorisiertes Fahrrad im Angebot, das von den 0,7 PS eines schwachbrüstigen Saxonette-Aggre-gats mit 30 ccm Hubraum geschoben wurde …, der aber auch ein alter Hut war. Weil er ein doppelt so großes und fast doppelt so starkes Produkt kopierte, das der Schweinfurter Radnaben- und Motorenhersteller Fichtel & Sachs 1937 bei der Berliner Automobilausstellung dem interessierten Publikum präsentiert hatte. Mit „interessiertem Publikum“ sind dabei aber nicht die Privatkunden gemeint, sondern Lizenznehmer, die rund um den Motor komplette Fahrzeuge aufbauen sollten – wenn sie denn wollten. Meist handelte es sich bei denen um Fahrradhersteller, die den Saxonette-Motor – geliefert fertig verspeicht in einem kompletten Laufrad samt Handbuch und Betriebsanleitung – in verstärkte Rahmen mit verschiedenen Arten von Federgabeln verpflanzten, was natürlich eine Gewichtszunahme bedeutete. Trotzdem genügten die 1,2 PS (bei 3500 U/Min), um Ross und Reiter auf die wahnwitzige Geschwindigkeit von knapp 30 km/h zu beschleunigen. Wenn man sich den Zustand der damaligen Straßen vergegenwärtigt, war das ohnehin ausreichend, für Fernreisen wurde so eine Saxonette eh nicht benutzt …
Tatsächlich würde der Platz hier gar nicht ausreichen, alle Firmen aufzuzählen, die derart hilfmotorisierte Fahrräder aus eigener Fertigung anboten, wobei der Hauptname immer „Saxonette“ lauten oder diesen zumindest beinhalten musste. Die Saxonette wurde in den Fahrradkatalogen und Prospekten angepriesen, denn hauptsächlich waren es Fahrradhersteller wie Bismarck, Wanderer, Anker, Panther, Excelsior, Rixe, Hecker (im Vorderrad!), Victoria, Presto, Meister …
… und Dürkopp
– kein unbekannter Name in Fahrrad- und auch Motorradkreisen. Die Wurzeln des Unternehmens gehen auf das Jahr 1860 zurück, als zwei Schlosser namens Baer und Koch in Bielefeld mit der Produktion von Nähmaschinen begannen. 1865 stellten sie den Mechaniker Nikolaus Dürkopp ein, der 1861 bereits eine Nähmaschine entwickelt hatte. Die er auch selbst vermarkten wollte, weshalb er Baer & Koch 1865 schon wieder verließ, um sein eigenes Unternehmen zu gründen – zusammen mit dem Schlossermeister Carl Schmidt. Letzterer verließ das Unternehmen 1876, die Firma hieß jetzt Dürkopp & Co und bekam wie viele andere metallverarbeitende Betriebe auch die damalige Absatzflaute zu spüren und suchte nach neuen Produkten. Dürkopp fand sie im Fahrrad – als erster deutscher Großserienproduzent übrigens. Seine vorherigen Mitstreiter taten es ihm später gleich, auch Baer und Koch bauten Fahrräder unter dem Label Adler, Carl Schmidt hingegen gründete Anker – dazu gleich mehr. Bei Dürkopp kamen bald Automobile mit ins Programm, und auch Motorräder – 1906 entstand sogar ein Vierzylindermodell mit Kardanantrieb – vermutlich nach einer FN-Lizenz. In Österreich ist Dürkopp bekannt, weil die florierende Bielefelder Firma 1897 die Aktienmehrheit der Grazer Fahrradfabrik Puch-Styria übernimmt und Johann Puch aus dem Vorstand drängt – worauf der später sein zweites Werk gründet, diesmal unter eigenem Namen.
Träger des ersten hier vorgestellten Saxonetten- Motors ist also ein Dürkopp-Fahrrad aus dem Jahr 1938. Ein typisches Kind seiner Zeit, groß, schwer, schwarz, mit 26 x 2 Ballonreifen, Halbnaben-Trommelbremse im Vorderrad, hinten Rücktritt, breiten Kotflügeln und Tourenlenker, und dem für die damalige Zeit typischen Bandfeststeller. Als einziges unter den hier vorgestellten Saxonetten ist der Tank nicht Bestandteil des Rahmens, sondern er ist als separates Teil über dem hinteren Kotflügel angebracht, braucht dazu also keinen Gepäcksträger – ja verhindert sogar die Anbringung eines solchen. Der Zustand des Rads ist rustikal/original – so wurde es zusammen mit zwei BMW-Motorrädern aus den 1920er-Jahren auf einem Dachboden gefunden, und so stehen die drei Exponate heute als Scheunenfund im Motorradmuseum Vorchdorf zur Besichtigung – noch mitsamt dem Staub, der sich in den Jahrzehnten der Kasernierung auf dem Lack festgesetzt und mitgeholfen hatte, die Substanz zu erhalten.
Anker
Die eben erzählte Firmengeschichte lässt sich am nächsten Objekt fortsetzen. Carl Schmidt hatte sich also 1876 selbstständig gemacht, um unter seinem Namen mit dem Zusatz „Bielefelder Nähmaschinenfabrik“ ebensolche herzustellen. Als 1894 Fahrräder mit dem neuen Label „Anker“ versehen wurden, war Schmidt schon nicht mehr dabei. Nach einem verlorenen Prozess gegen seinen neuen Compagnion Hugo Hengstenberg war er 1883 ausgeschieden. Hengstenbergs Anker-Werke machten sich auch einen Namen mit Büromaschinen und nahmen 1902 die Produktion eines Motorrads auf, was sie aber bald wieder aufgaben. Dafür war Anker in den 20er-Jahren der weltweit größte Fahrradhersteller.
Bei Fahrradsammlern am bekanntesten und begehrtesten unter allen Anker-Modellen ist das Sichelrad. Es trägt diesen Namen wegen der federnden, sichelförmigen Form der Vorderradgabel. 1933 war es auf den Markt gekommen, und es bildete auch die Basis, um darin den Saxonetten-Motor einzubauen, 1937 geschah das bereits, Anker ist somit wohl einer der ersten Lizenznehmer von Fichtel & Sachs. Geeignet zum Einbau schien dafür der Herrenrahmen, dem aber das Oberrohr amputiert wurde. Dafür wurde ein bananenförmiger Tank zwischen Steuerkopf und Sattelrohr eingefügt, der neben seiner Hauptfunktion auch für mehr Stabilität sorgte. Auch eine Anker-Saxonette können wir präsentieren, sie ist aus dem Produktionsjahr 1939, trägt das ankertypische Hellblau unterm Rost und gehört Herwig Lehner – seines Zeichens Obmann des VMVC Mariazell.
Wanderer
Das Baujahr des dritten hier vorgestellten hilfsmotorisierten (Damen)rads ist laut Typenschild 1943. Das dürfte es eigentlich gar nicht mehr geben, weil die Besitzer der Wanderer-Fahrradwerke vom Hitler-Regime bereits 1942 enteignet worden waren. Möglicherweise wurden noch vorhandene Teile von ehemaligen Mitarbeitern oder Zulieferern zu kompletten Fahrzeugen vervollständigt und das Unternehmen im Kleinen weitergeführt. Das vermutet der heutige Besitzer der Damen-Saxonette, ein Sammler aus dem Hausruckviertel, und er vermutet weiter, dass die Federung am Vorderrad aus dem Zubehörhandel kommt.
Im Jahr 1885 hatten die Herren Johann Baptist Winklhofer und Richard Adolf Jaenicke das „Chemnitzer Velociped-Depôt Winklhofer & Jaenicke“ gegründet, um den gerade herrschenden Boom auszunutzen und Fahrräder zu verkaufen. Noch im gleichen Jahr erweiterten sie ihr Betätigungsfeld und stellten selbst Hoch- und Sicherheitsräder her. Das war nur logisch, immerhin war ihr Unternehmen ja am Rande des Erzgebirges in Chemnitz angesiedelt, dem Hauptort der sächsischen Schwerindustrie und des Maschinenbaus. Wenig Eigenständiges zeichnen ihre Produkte aus, es waren mehr oder weniger Plagiate der damals so beliebten englischen Maschinen, auch bei der Namenswahl hatten sie sich auf der Insel bedient: „Wanderer“ nannten sie ihre Räder und hatten damit lediglich den Markennamen „Rover“ des englischen Inventors John Kemp Starley ins Deutsche übersetzt.
Assmann
Aber auch in Österreich wurde die Saxonetten-Einheit verbaut. Die Brüder Assmann genossen hierzulande einen guten Ruf als Hersteller hochwertigen Fahrradzubehörs, im speziellen von Sätteln. Aber auch komplette Fahrräder verließen die Fabrik in Leibnitz in der Steiermark. Wenig bekannt ist jedoch, dass der Name „Assmann“ auch auf Kleinkrafträdern prangte.
Ob die allerdings in Leibnitz selbst gefertigt oder bestenfalls zusammengebaut und mit den Markeninsignien versehen worden sind, lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei feststellen. Ähnliche Räder gab es in Deutschland von verschiedenen Herstellern, man darf dahinter ein Kompensationsgeschäft vermuten: Sättel von Graz/Leibnitz zum Rahmenbauer, ganze Motorräder von dort zurück nach Leibnitz …
Das hier gezeigte Vehikel gehört zur Sammlung des leider schon verstorbenen Sammlers Hans Unterleitner aus Attnang Puchheim, der sonst eher auf Puch spezialisiert war. Er hat das Sachserl vor einigen Jahren auf dem Teilemarkt in St. Pölten gefunden und kurzentschlossen zugegriffen … andere Insider kreisten nämlich schon um das seltene Moperl.
Göricke
Eine ähnliche Rahmenform wie Assmann wählte auch die deutsche Marke Göricke als Träger des Radnabenmotors. Das Bielefelder Traditionsunternehmen formte einen Rahmen mit tiefem Durchstieg, der ideal geeignet für die Aufnahme des Tanks ist. Auch hier ist die vordere Gabel gefedert.
Restauriert und aufbewahrt hat die Göricke-Saxonette Sepp Maier aus Schalchen bei Mattighofen, und sie ist nur eine unter vielen Exponaten seiner umfangreichen Sammlung – zu der viele andere Motorräder gehören, die zu bewegen Sepp sicher reizvoller findet, als die doch eher schmalbrüstige Saxonette.
Wisent
Auch unser letztes Fotomodell kommt aus Deutschland, hat aber einen Bezug zu Österreich. Als Hersteller von Motor samt Aufbau ist im Typenschein zwar Fichtel & Sachs aus Schweinfurt eingetragen, bei dem Fahrrad handelt es sich aber eindeutig um ein Wisent Einheitsfahrrad, dessen Geschichte im Jahr 1935 begann: „1935 … kam mir in einigen schlaflosen Nächten der Gedanke, den bestehenden (Fahrrad-)Rahmen vollständig wegzulassen und nur ein Tragrohr mit einer durchgehenden Sattelstütze zu machen.“ So erinnerte sich der Leobersdorfer Mechaniker Johann Schmuck an die erste gedankliche Initialzündung, die zum Wisentrad führte und für ihn aber nicht Ruhm, Ehre und Reichtum bedeutete, sondern in einem finanziellen Fiasko endete.
Jetzt war zwar der Kreuzrahmen auch damals schon nichts wirklich Neues, in der Epoche um 1890 hatte jeder Fahrradhersteller ein solches Modell als billiges Pendant zum Diamantrahmen im Programm. Fraglich ist allerdings, ob Schmuck davon Kenntnis hatte, und neu war außerdem der ofenrohrähnliche Durchmesser des „Tragrohrs“. Schmuck baute einige Exemplare der Räder mit dem charakteristischen Kreuzrahmen und stellte sie auf der Wiener Messe 1936 aus.
Die Firma Carl Goldeband (einer der ersten Fahrradhersteller in Österreich, die Firma gab es schon vor 1890) übernahm von Schmuck die Fertigungsrechte, überwies ihm aber keine Lizenzgebühren – zu schlecht hatte er sich abgesichert! 1938 gab Goldeband die Rechte an die deutsche Firma Fichtel & Sachs weiter. Weil die aber keine Fahrräder, sondern Mopeds mit ihrem Saxonetten-Einbaumodul damit produzierten, starb Schmuck abermals um seine Patentrechte. Das überdimensionale Zentralrohr war aber auch hervorragend dafür geeignet, einen Tank aufzunehmen. Natürlich waren diese Himos nicht mit Wulst-, sondern Halbballon-Drahtreifen ausgestattet. Zwanzig Jahre später brachte die Nürnberger Firma Hercules übrigens mit dem Modell 2000 ein Fahrrad mit Kreuzrahmen, dessen Vorbild sich nach einem Vergleich mit dem Wisent nur schwer wegleugnen lässt.
Ungefähr ein Dutzend Wisent-Fahrräder sind in österreichischen Sammlerkreisen bekannt, einige davon auch im Originalzustand – wesentlich mehr Modelle mit dem Saxonette-Motor dürften hingegen in Deutschland überlebt haben. Von diesem Dutzend in Österreich erhalten gebliebenen jedenfalls unterscheiden sich alle in Ausstattung und Farbgebung. Der Katalog des Großhändlers Gustav Wondrak, in dem das Wisentrad angeboten wurde, weist darauf hin, dass neben der Standardfarbe Schwarz auch folgende Farben zu haben waren: Rot, Blau, Grün, Braun und Grau. Bei den farbigen Ausführungen waren Felgen und Kotbleche vernickelt und der Kunde musste eine entsprechende Preiserhöhung einkalkulieren. Ein Paradoxon, wie man es in diesen Zeiten oft erlebte: Statt mehrere günstige Einsteigerräder anzuschaffen, wurde lieber ein Luxusmodell gekauft, dass sich dann die ganze Familie teilen muss – dafür war allerdings der Einheitsrahmen des Wisentrads prädestiniert.
Nicht nur die Vorgeschichte ist österreichisch, auch der Lebenslauf unseres schlicht als Saxonette im Typenschein eingetragenen Hilfsmopeds ist quasi im heimischen Dialekt geschrieben und in Form von allen zur Zulassung notwendigen Papieren erhalten. 1948 wurde es erstmals zugelassen, und zwar in Linz von einem Herrn Johann Schrems. Nur drei Monate später hat er es an einen Josef Lechner in Altheim im Bezirk Braunau weiterverkauft. Wie lange Herr Lechner die Saxonette benutzt hat, ist nicht bekannt, über eine Abmeldung berichtet der Typenschein nichts mehr. Das Moped taucht erst wieder in der Neuzeit beim Enkel des Drittbesitzers in Grünau im Almtal auf. Der muss das Fahrrad irgendwann mit einem neuen Anstrich (in mattem Schwarz) versehen und nach seinem Gusto in rot/weiß liniert haben. In diesem Zustand steht es jetzt als Leihgabe im Motorradmuseum Vorchdorf.
Mit einem identischen Fahrwerk wie beim Wisent hat auch der deutsche Hersteller Brennabor seine Saxonetten ausgeliefert – in Hellblau. Und war damit ein weiterer unter vermutlich an die 100 Hersteller, die den Saxonetten-Motor als Antrieb für ihre Fahrräder verwendeten. Alle vorzustellen, würde hier ein kleines bisschen den Rahmen sprengen …