Der Spatz, der niemals richtig fliegen lernte

Autor: Thomas Reinwald


Victoria-Werksunterlagen aus dem Jahr 1957 geben einen Einblick über den Kleinwagen „Victoria 250“, besser bekannt geworden unter seinem Kürzel „Spatz“.

Mit der Fertigung von Bohrmaschinen unter dem Vertriebsnamen „Alzmetall“ schuf sich Harald Friedrich eine gesunde finanzielle Basis, um sich den Traum eines Autoproduzenten zu erfüllen. Im Jahre 1954, als kleine Autos die seit Kriegsende dominierenden Motorräder als Beförderungsmittel Nummer eins auf Deutschlands Straßen langsam ablösten, kam dem damals 49-jährigen Friedrich zu Ohren, dass Egon Brütsch an einer neuen Konstruktion eines kleinen, dreirädrigen Personenwagens arbeitete. Bis dahin trat der Stuttgarter Brütsch mit der Herstellung von Kinderrennautos in Erscheinung.

Der Maschinenbauer reiste am 8. Dezember 1954 nach Stuttgart und traf sich mit Egon Brütsch. Die Vorstellung und Anpreisung seiner dreirädrigen Konstruktion beeindruckte den Maschinenproduzenten derart, dass sich beide zu einer Zusammenarbeit entschlossen.

Bis sich diese jedoch in einen Vertrag widerspiegelte, vergingen zeitraubende Stunden an diesem Tag. Egon Brütsch war an einem schnellen Vertragsabschluss in erster Linie deswegen interessiert, weil er damit seine stark angespannte finanzielle Situation rasch wieder aufbessern konnte. Harald Friedrich hingegen sah in der von Brütsch praktizierten und in der Szene wenig verbreiteten Verarbeitung von Kunststoff als Werkstoff für die Karosserie eine erstklassige Alternative zur üblichen Verwendung von Stahlblech. Bis spät in die Nacht verhandelten die beiden und gegen Mitternacht waren sie sich schließlich einig – Friedrich bekam die Lizenz für die Fertigung der neuen Konstruktion namens „200“ von Egon Brütsch, während er im Gegenzug die pauschale Summe von 20.000,- DM zahlen musste. Ein Vorschuss von 5.000,- DM an diesem Abend wurde ebenfalls vereinbart. Zu diesen Konditionen kam bei einer Serienproduktion pro Stück noch eine Abgabe von 35,- DM an Lizenzgebühren hinzu.

Mit diesem Arrangement waren beide Männer zufrieden und vor allem Harald Friedrich erhoffte sich dadurch einen technischen Vorsprung gegenüber der Konkurrenz in Form der Kunststoffkarosse. Er sah hier vor allem Potential für die Zukunft. Zwar steckte die Verarbeitung von ganzen Karosserien aus Kunststoff in Deutschland noch in den Kinderschuhen, dennoch gab es genügend Erfahrungen aus anderen Bereichen, die übernommen werden konnten. Neben der leichten Verarbeitung versprach vor allem das geringe Gewicht gegenüber üblichem Stahlblech einen erheblichen Vorteil. Faktoren wie Korrosionsfreiheit oder eine einfache Reparatur bei Schäden waren zwar nicht vernachlässigbar, traten aber in den Hintergrund.

Die freudige Stimmung von Harald Friedrich wurde aber schon nach kurzer Zeit getrübt.

Nach einigen hundert Kilometern mit dem Brütsch’en Dreirad musste er erkennen, dass gerade die so vielversprechende Kunststoffkarosserie zahlreiche Risse aufwies. Bei der Erkundigung der Ursache stellte der Bohrmaschinenfabrikant fest, dass der Wagen keinen Rahmen im herkömmlichen Sinne besaß und die Radaufhängungen direkt am Kunststoff montiert waren. An diesem Punkt erkannte Harald Friedrich, dass die Konstruktion keineswegs ausgereift war und noch weitere Entwicklungsarbeiten dringend notwendig waren, um den Wagen in Serie zu fertigen.

Mangels eigener fachlicher Kapazitäten entschied er sich, die Weiterentwicklung in erstklassige Hände zu geben und konnte dafür den bekannten und renommierten Konstrukteur Dr. h.c. Hans Ledwinka gewinnen. Mit seinem Renommee als ehemaliger Ingenieur bei Tatra konnten die Voraussetzungen nicht besser sein, das Auto hin zur Serienreife zu entwickeln. Es ist nicht überliefert, wie genau der Auftrag für Hans Ledwinka lautete, doch genau hieraus sollte ein großes Problem entwachsen.

Erteilte ihm Harald Friedrich lediglich die Verbesserung der Brütsch’en Konstruktion oder wünschte er sich ein komplett neues Auto?

Der 77-jährige Konstrukteur verstand letzteres darunter und lieferte ein eigenes Fahrwerk in Form eines vierrädrigen Autos ab, über das schließlich eine Karosserie gestülpt wurde, die auch nicht aus Kunststoff, sondern aus Polyesterharz bestand – damals gerne auch als „Panzer-Polyester“ bezeichnet. Die Verarbeitung dieser Mischung von Glasseide und Polyester erforderte eigentlich einen aufwändigen Herstellungsprozess, der aus Laminieren und dem anschließenden Austrocknen bestand. Um diesen Prozess zu verkürzen, arbeitete Harald Friedrich an einer rationellen Methode. Er ließ Betonformen mit der Negativ-Silhouette der Karosserie anfertigen, in der die nur knapp 2,5 Zentimeter dicke Kunstharzschicht unter dem Gewicht von annähernd 140 Tonnen Presskraft in Form gebracht wurde.

In dem serienreif entwickelten, neuen Fahrzeug von Hans Ledwinka kam ein zugekaufter 200er Zweitakter von Fichtel & Sachs mit knapp 10 PS zum Einbau. Dies war keine ungewöhnliche Wahl, denn auch die Konkurrenten – beispielsweise Messerschmitt-Kabinenroller oder Fuldamobil – verwendeten diesen Motor.

Der Anlauf der Serienproduktion verzögerte sich ungewollt lange und nach über einem Jahr drängte Harald Friedrich schließlich, den Wagen auf den Markt zu bringen. Ob dies an den Konkurrenzprodukten lag oder ob seine liquiden Finanzen schwanden, ist ungewiss. Die Zeit war aber nicht nur aus Sicht der Autoentwicklung keineswegs reif, es fehlte auch ein flächendeckendes Vertriebsnetz.

Auf der Suche nach einem Kapitalgeber mit deutschlandweit abgedeckter Händlerverteilung, traf er in der ersten Hälfte des Jahres 1956 bei der Victoria-Geschäftsführung in Nürnberg auf offene Ohren. In der Frankenmetropole bestand zu diesem Zeitpunkt die Befürchtung, man habe den Boom der Kleinfahrzeuge komplett verschlafen, wodurch Harald Friedrichs Angebot sehr gelegen kam. Allerdings stand es zu dieser Zeit bereits um die wirtschaftliche Situation des traditionellen Nürnberger Zweiradherstellers nicht mehr zum Besten. Fehleinschätzungen am Zweiradmarkt und eine stark nachlassende Fertigungsqualität führten zu sinkenden Absatzzahlen. Wie auch Zündapp nur wenige Straßenzüge weiter, so sah die Victoria-Betriebsführung um Direktor Bauer in einem Automobil langfristig ein solides Standbein. Da das Unternehmen von Harald Friedrich die Fertigungsprozesse schon abgestimmt hatte, kamen die beiden Vertragspartner überein, die Montage nicht im Nürnberger Victoria-Werk neu einzurichten, sondern im Werk in Traunreut zu belassen. Um nach außen hin die Zusammenarbeit zu signalisieren, gründeten beide Unternehmen die Firma „BAG“ – abgekürzt für „Bayerische Autowerke GmbH Nürnberg“.

Spätestens anlässlich der IFMA 1956 im Oktober wurden dieser Verbund auch in der Zweiradszene bekannt. In Halle 2, am Stand 13 stand er – der „Spatz“ zum Preis von 2.975,- DM.

Die meisten Messebesucher hatten dabei keine Ahnung, was sich hinter den Kulissen abspielte. Unmittelbar vor Beginn der Messe, am 4. Oktober 1956, gab Egon Brütsch eine Pressemeldung heraus, in der es hieß: „… es ist eine Schande und Frechheit, wenn sich heute die den Spatz bauende Firma erlaubt, Zeitungsenten zu verbreiten, der Spatz sei eine Eigenkonstruktion …“. Aufgrund dieser Zeilen wandte sich die BAG an das Landgericht in Stuttgart und beantragte eine einstweilige Verfügung, die Egon Brütsch noch rechtzeitig vor Messebeginn zugestellt wurde. Darin hieß es: „… bei einer Geldstrafe in unbeschränkter Höhe oder einer Haftstrafe bis zu sechs Monaten …“ kann Egon Brütsch verurteilt werden, sollte er weiterhin behaupten, der von der BAG hergestellte Kleinwagen sei seine Konstruktion.

Von dieser Maßnahme ließ sich der schwäbische Konstrukteur jedoch keineswegs beeindrucken und forderte von der BAG die nach seiner Ansicht fälligen Lizenzgebühren ein. Er begründete dies mit dem Passus „… sollte das Fahrzeug von der Lizenznehmer-Firma an anderer Stelle gebaut werden oder in veränderter Form in Fertigung gelangen, ist die Lizenzfirma trotzdem zur Zahlung der Lizenzsumme verpflichtet …“, der in seinem Vertrag mit Harald Friedrich vom Dezember 1954 verankert war.

Nach der IFMA, auf der neben der BAG auch Egon Brütsch einen neuen Wagen mit Kunststoffkarosse präsentierte, stellte der Anwalt des schwäbischen Konstrukteurs Anzeige gegen die BAG. Der Vorwurf lautete: Missbrauch der Schutzrechte.

Harald Friedrich kramte daraufhin ein vom TÜV in München erstelltes Gutachten aus der Schublade, in dem der Technische Überwachungsverein am 14. Januar 1956 schriftlich fixierte: „… der Fahrzeugtyp Spatz stellt keine Weiterentwicklung des Typs Brütsch 200 dar.“ Weiter führte die Expertise sogar explizit aus, dass es sich „… um eine Neukonstruktion handelte, wobei lediglich einige Merkmale der Erstausführung beibehalten wurden.“

Auch wenn die potentielle Kundschaft von diesen Machenschaften nichts mitbekam, so traf der Kleinwagen den Nerv der Zeit weitaus weniger, als erwartet. Die Bestellungen trudelten nur spärlich ein.

Harald Friedrich verlor nach lediglich 859 verkauften Modellen zunehmend das Interesse an dem Kleinwagen. In den ersten Monaten 1957 schied er aus der BAG aus und Victoria übernahm im April 1957 die kompletten Fertigungsrechte am Wagen. Der schwelende Rechtsstreit um die Lizenz wurde im Februar 1957 mit einem Entscheid des Landgerichts Stuttgart endgültig zu Gunsten von Harald Friedrich entschieden, so dass hieraus keine Zahlungen mehr zu erwarten waren.

Der Spatz wurde mit der Übernahme durch die Nürnberger zunächst unverändert gefertigt und die Verantwortung dafür intern in die Hände von Ing. Richard Loukota gelegt. Einer seiner ersten Aufgaben war, den als leistungsschwach kritisierten 200er Fichtel & Sachs Zweitakter durch einen stärkeren Antrieb zu ersetzen. Die Presse äußerte sich hierzu beispielsweise mit den Worten: „… der 200er-Sachsmotor … nur ein recht bescheidenes Temperament entwickelt …“.
 

Aus dem luftgekühlten 250er-Einzylinderzweitaktmotor des Motorrads KR 26 wurde ein passender Motor abgeleitet, der jedoch dahingehend modifiziert wurde, dass er über ein Gebläse gekühlt wurde. An Stelle der bis dato eingebauten Vier-Gang-Schaltung kam nun ein Getriebe mit fünf Zahnradpaaren und elektromagnetischer Betätigung, in Anlehnung an die beim Motorrad KR 21 Swing und beim Peggy-Roller konzipierte Schaltung, zum Einbau.

Mit dem 250er-Motor standen dem Kleinwagen fortan 14 PS zur Verfügung. Dies war auf den ersten Blick eine Leistungssteigerung von fast vier Pferdestärken, doch dem stand ein Gewichtszuwachs von 135 kg gegenüber, was die Fahrwerte kaum verbesserte. Der Spatz wurde komplett in Nürnberg hergestellt, einzig die Karosse wurde weiterhin vom ehemaligen Traunreuter Werk bezogen, wo sie auch weiterhin in den Betonformen gepresst wurde.

Kenntlich war die leistungsstärkere, modifizierte Version an der neu gewählten Bezeichnung „Victoria 250“, aber auch am gestiegenen Verkaufspreis, der nun mit 3.350,- DM in der Liste stand.

In der zeitgenössischen Berichterstattung konnte der Wagen nicht immer die Redakteure begeistern. In Anspielung auf den Werbespruch „Der dritte Mann sitzt nebenan …“ wurde kritisiert, dass wenn wirklich drei Personen auf der Sitzbank saßen, der Platz nur „… zur Not … reicht“. In diesem Zug wurde ebenfalls moniert, dass bei geschlossenem Verdeck der Zustieg der dritten Person „… nicht berücksichtigt wurde“. Um dieses Problem zu umgehen, präsentierte das Victoria-Werk im Oktober 1957 eine Version mit Flügeltüren, die an einem Dachaufsatz aus Kunststoff befestigt waren und einen besseren Einstieg garantieren sollte. Allerdings konnte dies niemand wirklich bestätigen, denn die Weiterentwicklung ging niemals in Serie.

Weitere Kritikpunkte betrafen die hohe Geräuschentwicklung, die Lüftungsverhältnisse im inneren, eine harte Federung und, dass eine einigermaßen sportliche Fahrwerte nur unter „…voller Ausnützung des Fünfganggetriebes“ erzielt werden konnte.

Eine äußerst ungünstige Publicity ergab sich im August 1957, als der bekannte Motorjournalist Ernst Leverkus ein redaktionelles Besprechungsexemplar testen wollte. Am 7. August holte er den Wagen in Nürnberg persönlich ab und wollte ihn wenige Tage später an Dr. Paul Simsa übergeben, der ihn ebenfalls für eine Berichterstattung fahren wollte. Diese Planung wurde jedoch schnell zunichte gemacht, als der Wagen mit Ernst Leverkus am Lenkrad Feuer fing und binnen 15 Minuten vollkommen ausbrannte. In der Analyse des Werkes, die bereits über die „… thermische Empfindlichkeit …“ Bescheid wusste, hieß es lapidar, die Brandursache sei darauf zurückzuführen, dass sich „… eine anormale Wärmeentwicklung im Motorraum bemerkbar machte …“.

Nach diesem unrühmlichen Ende meldete sich bereits am 12. August 1957 Dr. Paul Simsa in Nürnberg und fragte an, wann er denn nochmals einen Victoria 250 zum Testen bekäme. Im gleichen Telefonat führte er aus, dass sein Eindruck während der kurzen Fahrt vor dem Brand „… denkbar schlecht gewesen sei“. Einen nicht verstellbaren Fahrersitz empfand er als unmöglich. Die Abführung der Motorabwärme rügte er genauso wie das laute Ansauggeräusch. Diese, wenn auch fachkundigen, jedoch unschönen Äußerungen führten victoria-intern zu Diskussionen, doch ein Rezept zur Abhilfe wurde nicht mehr gefunden.

Genauso wenig setzten sich die Techniker mit den vermehrt herangetragenen Wassereintritten in den Koffer- und Heckraum auseinander, wie es in einem Vermerk vom 20. August 1957 festgestellt wurde. Aus dem Düsseldorfer Raum schrieb der Händler Wildenauer an das Werk, dass bei einem Wagen ein Kolbenfresser auftrat, bei zweien waren die Befestigungsschrauben für die Lichtmaschinen nur ungenügend angezogen und bei zwei weiteren ausgelieferten Autos funktionierte die Schaltung nicht. Gravierend wurde zudem empfunden, dass das Kupplungsseil bei keinem einzigen Fahrzeug ordnungsgemäß geschmiert war. Derartige Reklamationen führten soweit, dass der Händler Hirt erst wieder Modelle abnehmen wollte, wenn diese Schwachstellen beseitigt worden waren.

Bei dieser Fülle von Beanstandungen zeigte sich schnell, dass die zum 30. Juni 1957 kalkulierten Rückstellungen für Nachbesserungsarbeiten von 50,- DM pro Fahrzeug viel zu gering waren. Doch die zu dieser Zeit finanziell schon extrem angespannte Situation in der Nopitschstraße verhinderte größere Investitionen, Rückstellungen und auch Weiterentwicklungen. Das einstmals große Renomierwerk kämpfte mit Unzulänglichkeiten, die nicht nur mit dem stark nachlassenden Motorradverkauf in Deutschland zusammenhingen, sondern in erster Linie hausgemacht waren. Mangelnde Qualität, eine ungünstige Modellpolitik, unausgereifte Konstruktion und technische Unzulänglichkeiten – all dies nagte gewaltig am einstmals guten Ruf der Nürnberger Zweiradfirma. Und nun kamen eben auch noch die Krankheiten des Victoria 250 hinzu. Am Rande sei bemerkt, dass dieser offizielle Verkaufsname sogar in der hausinternen Korrespondenz nicht verwendet wurde, sondern nach wie vor die Bezeichnung Spatz.

Schlussendlich keimte noch die Idee auf, den Kleinwagen im Ausland anzubieten.

Der New-Yorker Händler „Gordon Motors Corp.“ erhoffte sich offenbar ein gutes Geschäft in den USA, musste aber schnell feststellen, dass er mit seiner Einschätzung daneben lag.

Mit der Übernahme der Victoria-AG im November 1958 und dem anschließenden Aufgehen in der Zweirad-Union wurde die Fertigung des Victoria 250 eingestellt. Insgesamt verließen unter dem Victoria-Logo an der Haube 729 Exemplare das Unternehmen – unter dem Namen Spatz liefen 859 Stück vom Traunreuter Montageband.

Da die neu gegründete Zweirad-Union nur Interesse an der zweirädrigen Fertigung hatte, wurde die Automontage mit allen Ersatzteilen 1958 an die Firma Burgfalke verkauft. Auch dieses Unternehmen hatte kein Glück mit dem Spatz, der niemals richtig fliegen lernte.


 

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