Elsa Incognita
Autor: Erik Eckermann
Fragmente aus dem Leben von August Horchs zweiter Frau Else Moll.
Clara Schumann, Dorothea Schlegel, Fanny Mendelssohn-Bartholdy
erst in jüngerer Zeit beschäftigt sich die Forschung mit Frauen, die zeitlebens im Schatten der sie umgebenden Männer blieben und deren Leistungen die damalige patriarchalisch orientierte Gesellschaft nicht wahrnehmen wollte. Davon kann im vorliegenden Fall zwar nicht die Rede sein, denn August Horch hat das ihm Mögliche getan, Else Moll zu fördern. Dennoch kann über deren Begabung nur unvollständig berichtet werden, weil biographische Unterlagen in der Kriegs- und Nachkriegszeit abhanden gekommen sind und weil Archive und Personenstandsbücher nicht in jedem Fall einzusehen waren. Aus den ohnehin spärlichen Stellen in der Literatur geht hervor, dass Else Moll als Opernsängerin aufgetreten sein soll, sogar in Bayreuth. Das mag sein, soweit es sich nicht um die Bayreuther Festspiele gehandelt hat. Auch kann davon ausgegangen werden, dass sie jede Gelegenheit nutzte, bei privaten und halboffiziellen Anlässen vorzusingen. Landesweite und länger dauernde Engagements sind jedoch nicht anzunehmen.
Vermutlich wäre Else Moll unbekannt geblieben, wenn sich nicht ihr Lebensweg mit dem von August Horch gekreuzt hätte. Wann dies der Fall war, lässt sich heute noch nicht bestimmen. Angenommen wird die Zeit um 1927. In diesem Jahr nahmen beide an einem Ball und Festessen des Berliner Automobil-Clubs (BAC) teil: August Horch, Gründer der Horch- und Audi-Werke in Zwickau, als Mitglied des BAC, dessen Präsident er 1929 werden sollte, und Else Moll als Mitwirkende eines Gesangtrios, das Lieder von Wagner, Strauß, Puccini und anderen vortrug. Hier und bei anderen Gelegenheiten trat Else Moll unter dem Künstlernamen Else Mollini auf.
Else Moll wurde als drittes Kind des Kaufmanns Franz Louis Hugo Moll (1871–1936) und seiner Frau Flora, geb. Lissner (1871– n.a.) am 28. Juli 1901 in Berlin geboren. Ihr Bruder Georg (1899–1966) betrieb später eine Marzipanfabrik in Berlin, ihre Schwester Dorothea (1900–1972) emigrierte 1933 nach England und heiratete dort den Textilkaufmann Jack Saville.
Nach der Realschule besuchte Else eine Handelsschule und nahm Gesangsunterricht. Aus der 1923 oder 1924 geschlossenen Ehe mit dem um etwa 20 Jahre älteren Veterinär Max Kolmar ging Sohn Klaus hervor, der am 23.8.1924 in Berlin geboren wurde.
Über Max Kolmar und über die Dauer der später geschiedenen Ehe mit Else Moll konnten keine weiteren Einzelheiten ermittelt werden, ebenso wenig darüber, wann Else Kolmar im Haushalt Horch aufgenommen wurde.
August Horch (1868–1951) hatte 1897 Anneliese Schulz (1877–1946) geheiratet. Weil die Ehe kinderlos blieb, nahmen August und Anneliese Horch 1917 die zu Vollwaisen gewordenen Kinder eines Fabrikanten in Zwickau an Kindes statt an, nämlich Eberhard Reichenbach (1906–1946) und dessen Schwester Franziska Elisabeth Charlotte (1907–1993), kurz Liselotte oder Lilo genannt. Die Adoption erfolgte 1928. Die Reichenbach-Kinder wuchsen zunächst in Zwickau auf, ab August 1920, nach Horchs Umzug nach Berlin, am Kaiserdamm 26 und, je nach Gelegenheit, auf dem Distelberger Hof, Horchs Besitztum in seiner Heimatgemeinde Winningen an der Mosel.
Else Kolmar im Haushalt Horch
Als August Horch am Ende einer fast dreiwöchigen „Gesellschaftsfahrt“, die der ADAC im April 1929 veranstaltet hatte, mit Magengeschwüren im Krankenhaus Regensburg behandelt werden musste, kam noch seine Frau Anneliese, die man telefonisch benachrichtigt hatte, ans Krankenlager. Während eines anderen Krankenhausaufenthaltes im Jahr 1935, diesmal verursacht durch einen Autounfall auf eisglatter Straße in der Nähe von Wittenberg, eilte Else Kolmar zu ihm. Horch schreibt dazu in seinem 1937 herausgebrachten Buch „Ich baute Autos“. „Man telephonierte an meine Frau, und da sie nicht kommen konnte, da sie sehr leidend ist und außerdem fast blind, kam die tapfere Frau Else Kolmar, die seit langen Jahren meine treueste Mitarbeiterin ist, in uneigennütziger Weise meiner Frau und mir zur Seite steht und wie ein Kind in unserem Hause lebt, an mein Krankenbett. Mein Schreck war sehr groß, denn nun sah ich, dass mein Zustand doch sehr ernst war. Als ich sie an meinem Krankenbett in Wittenberg auftauchen sah, wurde ich etwas aufgeregt, denn ich schloss daraus, dass mein Zustand nicht unbedenklich zu sein schien.“
In der „entnazifizierten“ Neuauflage von 1949, jetzt mit dem Titel „Aus meinem Leben/Ich baute Autos“, liest sich dieser Passus so: „Man telephonierte an meine Frau, und da sie nicht mehr kommen konnte, da sie sehr leidend ist und außerdem fast blind, kam unsere Pflegetochter, Frau Else Kolmar, welche schon lange bei uns in der Familie aufgenommen ist und die, außer in der Wirtschaft, auch mir zur Seite steht, meine schriftlichen Arbeiten, die nicht wenig, auch nicht leicht sind, erledigt. Alle Arbeiten macht sie in ganz uneigennütziger Weise. Als ich diese tapfere, immer freundliche, brave Frau an meinem Lager entdeckte, bekam ich einen gelinden Schreck, ich schloss aus ihrem Kommen, daß mein Zustand nicht unbedenklich zu sein schien. Sie blieb gleich bei mir und übernahm meine Pflege bis zur Wiederherstellung in aufopfernder Weise.“
Die Vermutung liegt nahe, dass Else Kolmar ab 1933, nach der „Machtübernahme“ durch die Nationalsozialisten, als „Mädchen für alles“ im Horch’schen Haushalt Schutz und Zuflucht gefunden hatte. Denn Elses Mutter war Jüdin.
Der Gesundheitszustand von Anneliese Horch, „eine sehr warmherzige, aber stille … (und) … introvertierte Frau … (die) zur Schwermut neigte“, verschlechterte sich zusehends. Kirchberg schreibt, dass sie fast völlig erblindete und wegen einer Hüftgelenksentzündung nahezu bewegungsunfähig wurde. Schließlich erreichten ihre Krankheiten ein Stadium, in dem auch beste häusliche Pflege eine Linderung nicht mehr herbeiführen konnte. So wurde sie 1938 ins Berliner Elisabeth-Hospital für Frauen eingewiesen.
Damit verließ Else Kolmar zwangsläufig ihre Rolle als „Mitarbeiterin“ (August Horch 1937) oder als „Pflegetochter“ (1949) und übernahm diejenige einer Gesellschafterin und mehr – wohl auch kritisch verfolgt von den Reichenbach-Kindern, die dank August und Anneliese Horch Nestwärme und berufliche Ausbildung genossen hatten. Sie waren inzwischen nicht mehr im Haus und standen im Begriff, eigene Familien zu gründen. Lilo heiratete Ende 1938 den Hotelier Heinz Henselder aus Koblenz und brachte zwei Mädchen zur Welt: Helga (*1940) und Heike (*1944, verh. Müller). Helga verh. Henselder-Barzel wurde später als Präsidentin der Deutschen Welthungerhilfe bekannt. Sie verunglückte 1995 tödlich. Eberhard Reichenbach, inzwischen Ingenieur, dürfte ebenfalls Ende der 30er-Jahre geheiratet haben. Die Ehe mit seiner Frau Lieselotte blieb kinderlos.
In dieser auch familiär bewegten Zeit brachte Horch sein bereits erwähntes Buch „Ich baute Autos“6 heraus. Es stellt eines der wenigen Werke dar, in denen „ein handelnder Zeitgenosse unkonventionell sein Erleben, seine Erfahrungen und seine Gedanken über eine der stürmischsten Epochen der modernen technischen und wirtschaftlichen Entwicklung … vor dem Leser ausbreitet“. Damit war Horch nach seinen Tätigkeiten als Schmiedegeselle, Maschinenbauingenieur, Autokonstrukteur, Sportfahrer, Industrieller, Gutachter und Funktionär auch noch unter die Autoren gegangen. Dieses „Dokument der Automobilgeschichte … dessen Wert nicht hoch genug veranschlagt werden kann“9, basiert auf Tagebuchnotizen und sonstigen Aufzeichnungen, die, das ist anzunehmen, von Else Kolmar aufbereitet worden sind. Die Diktion stammt von Horch, das dem Verlag vorgelegte Manuskript dürfte von Else geschrieben worden sein.
Zu seinem 70. Geburtstag am 12. Oktober 1938 schenkte die Auto Union AG ihrem Aufsichtsratsmitglied August Horch eine Mittelmeerreise, die ihn zusammen mit Else Kolmar Anfang 1939 von Genua über Neapel, Messina, Alexandrien, Kairo, den Libanon, Istanbul und von dort über Athen wieder nach Italien zurückführte. In den einzelnen Städten hielt Horch Vorträge vor den Auto Union-Vertretungen und vor den Automobilclubs. Es dürfte Elses erste Auslandsreise gewesen sein.
Die Mittelmeerreise muss Horchs Appetit geweckt haben, denn wenig später verhandelte er mit zwei großen deutschen Zeitungen über eine Reise um die Welt in einem Horch-Wagen. Davon versprach er sich viel, denn „wenn ein Industrieller mit dem Fabrikat, das er auf die Welt gebracht und jahrelang fabriziert hat, durch die Welt fährt und … Vorträge hält, er nicht nur für die Automobilindustrie wirkt, sondern auch volksverbindend eine große Tat vollbringt“. Hintergedanke war wohl auch, Henry Ford kennen zu lernen, Horchs heimliches Vorbild. Zu der Weltfahrt ist es wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs im September 1939 nicht mehr gekommen.
Bomber über Berlin
Nach den anfänglichen Siegen der deutschen Wehrmacht und dem dadurch ausgelösten Hochgefühl der Bevölkerung begann es auch in der Reichshauptstadt ungemütlich zu werden, nachdem die Royal Air Force ab August 1940 Angriffe auf Berlin geflogen hatte. In einem Brief vom 24. März 1941 an seinen Freund Heinrich Saas (1878–1965), Ex-Bürgermeister und Weingutsbesitzer in Winningen, berichtet Horch von den vielen Bränden und von den kalten Stunden im ungeheizten Luftschutzkeller. „Wir werden wohl nicht lange hierbleiben“, sehnsüchtelte er, „sondern reumütig zum Berg der Disteln zurückkehren …“.
Doch es kam ganz anders. Den Distelberger Hof in Winningen verkaufte Horch Anfang 1942. Wenig später unterzeichnete er einen Kaufvertrag über eine Immobilie am Schlachtensee, eine der vornehmsten Gegenden Berlins. Die in einem Park gelegene Doppelvilla grenzte an einen Wald, den die Auto Union kaufen wollte, „um eine Villenkolonie hinzubauen. Der Wald gehört einem verschollenen Juden und es ist schwer möglich herauszubringen, von wem man den Wald kaufen soll.“
Zum 1. April 1943 war die bisherige Wohnung am Kaiserdamm in Charlottenburg geräumt und die Villa in der Schönererzeile 23 in Schlachtensee bezogen, wobei Else die Handwerker zur Renovierung bestellt, den Umzug organisiert, neue Möbel gekauft und die Villa neu eingerichtet hatte, soweit sich dieses in Kriegszeiten noch bewerkstelligen ließ. Den Rasen vor dem Haus wollte sie ursprünglich als Kartoffelacker mit Erdbeerbeeten nutzen, doch schließlich bauten dort auf Wunsch von August Horch OT-Zwangsarbeiter aus Polen, Frankreich, Holland, Kroatien und aus anderen Ländern einen Bunker, der „ohne diese Leute gar nicht zustande gekommen (wäre)“.
Den Bunker jedoch scheinen August Horch und Else Kolmar wenig genutzt zu haben. Wegen der zunehmenden Luftangriffe auf Berlin nahmen sie Quartier im Hotel Dinter in Langenhessen/Sachsen. Von dort waren es nach Zwickau rund zehn, nach Chemnitz keine 55 Kilometer – vorteilhaft für Horch, der sich dort nun wieder öfter nützlich machen musste, nachdem er auf der Aufsichtsratssitzung der Auto Union AG Anfang 1942 zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt worden war. Als Verkehrsmittel benutzte er seinen Privatwagen, der Ende 1943 auf Holzgasbetrieb umgerüstet worden war und mit dem er auch größere Fahrten, z.B. nach Berlin, unternehmen durfte.
Herausragendes Ereignis privater Natur in dieser Zeit war August Horchs 75. Geburtstag am 12. Oktober 1943. Er hatte für Else den höchst willkommenen Nebeneffekt, ihren Sohn wiederzusehen. Horch hatte Klaus Kolmar in Zwickau als Lehrling unterbringen können, doch wurde der junge Mann noch während der Lehrzeit am 8. Dezember 1942 zu den Sturmpionieren eingezogen. Nach der Ausbildung und nach Einsätzen an der West- und an der Ostfront erhielt er zu Horchs Geburtstag einen zehntägigen Sonderurlaub, „weil er eine Tat vollbracht hat, über die er nicht sprechen darf, er kam mit ganz durchrittenem Gesäß hier an“.
An Horchs Geburtstag selbst nahm ganz Deutschland teil, und nicht nur die Presse übte sich in Artigkeiten. Schon am frühen Morgen erschien in Schlachtensee, Ort der Festlichkeit, ein Aufnahmewagen des Rundfunks, für den Horch zwei Platten besprechen musste. Ganz neu für ihn war ein Interview fürs Fernsehen, gefolgt von Kino-Aufnahmen für die Wochenschau und für ein „Archiv berühmter Männer“. 300 bis 400 Glückwunschadressen und Telegramme wären eingegangen, darunter eines von Hitler, doch im allgemeinen Trubel vergaß er Elses Beitrag nicht: „Tag und Nacht hat sie sich gesorgt … sieben große Kuchen, eine Torte und acht Bleche Teekuchen hat sie allein gebacken, die Arme konnte sie nicht mehr bewegen danach vor Muskelkater.“
Die seinem Busenfreund Heinrich Saas mitgeteilte Begeisterung über Elses Fürsorglichkeit blieb nicht ohne Resonanz. „Frau Kolmar (hatte) den größten Anteil an den … Vorbereitungen, ein Stück Arbeit, was oft viel zu leicht genommen und leider auch übersehen wird“, antwortete Saas artig.16 Und weiter: „… in Deinem lieben Molch“, wie die beiden Else auch nannten, „sind … Talent, Ausdauer und Geschick …harmonisch vereint. Von dem Temperament ist auch ein gut Teil auf Dich, lieber August übergesprungen …“.
So viel Anerkennung und Wärme wäre in der damaligen Männerwelt ganz sicherlich nicht über eine gewöhnliche Haushaltshilfe hereingebrochen. Auch wenn sich Else trotz ihres ausgeprägten Charakters und ihrer Begabung im Singen und Klavierspielen im Hintergrund hielt, wird der Bekanntenkreis ihre Wandlung von der Wirtschafterin und Hausdame zur Lebensgefährtin August Horchs wahrgenommen – und akzeptiert haben. Horch bekannte sich in aller Öffentlichkeit zu Else Kolmar, der Halbjüdin, wie es im Nazi-Jargon hieß, identifizierte sich andererseits jedoch durchaus mit den Zielen des Dritten Reichs, soweit diese ihm bekannt gewesen sein mochten.
Die Verbindungen zu seiner Frau Anneliese bestanden weiter. Aus Bemerkungen aus den nur noch bruchstückhaft vorhandenen privaten Unterlagen kann geschlossen werden, dass Besuche im Hospital stattfanden oder dass „Mutter“, wie Anneliese auch genannt wurde, zu Besuch bei August und Else weilte. Dazu Horch im Januar 1943: „Die Mutter war … zum Fest auf ihren eigenen Wunsch nicht hier, sie kann sehr schlecht laufen und friert hier bei uns zu sehr, denn dort in ihrem Heim wird immer noch gut geheizt. Wir waren zum Heiligabend bei ihr …“ Und an anderer Stelle: „Sie ist nach wie vor total blind und kann natürlich nicht schreiben, das macht eine Schwester für sie immer, sie gibt nur den Inhalt an.“
Ende 1943 und Anfang 1944 brachten neben die Villa gesetzte Bomben den Schornstein zum Einsturz. Wände rissen ein, Dachpfannen wirbelten durch die Luft und Scheiben flogen aus den Fensterrahmen. Im Mai 1944 ließ ein gezielter Treffer die Villa bis auf das Erdgeschoß niederbrennen. Glück für Horch und Kolmar: Sie hielten sich im Ausweichquartier auf, von wo aus Else den Transport von Büchern, persönlichen Utensilien und Kleinmöbeln von Schlachtensee nach Langenhessen organisierte. Auch war sie vor Ort, als Monate später ein Notdach gesetzt wurde, um den Flügel und andere Möbel vor der Witterung zu schützen. Zugleich meldete sie sich zur Heimarbeit, obwohl sie beim Arbeitsamt Berlin offiziell als Arbeitskraft mit wöchentlich 48 Stunden im Haushalt Horch geführt wurde.
Im Oktober 1944, kurz nach seinem 20. Geburtstag, wurde Klaus Kolmar bei den Kämpfen in Italien schwer verwundet. Mit einem Kopfschuss und Verbrennungen im Gesicht, mit einer verletzten Schlagader am rechten und einer faustgroßen Fleischwunde am linken Arm lag er erst in Meran, dann in Biberach im Lazarett. Seine Mutter war tagelang bei ihm und konnte schließlich eine Verlegung in die Nähe von Crimmitschau erreichen, etwa 5 km von Langenhessen entfernt. Im Februar 1945 wurde Klaus entlassen und lebte bei ambulanter Behandlung bei seiner Mutter und August Horch in Langenhessen.
Im Februar 1945 auch endete eine Irrfahrt von Anneliese Horch und von anderen, körperlich behinderten Frauen aus dem Elisabeth-Stift. Wegen der „Terrorangriffe“ wurden die Heimbewohnerinnen im Sommer 1944 zunächst in die Nähe von Schwerin am Selchower See, südöstlich von Berlin, evakuiert, später nach Fürstenwalde und dann wieder zurück nach Berlin gebracht. Dort kamen sie „gestern früh gegen ½ 4 Uhr … totmüde an. Sie müssen nun, da sie keine Betten dort haben, auf Stroh liegen.“
August Horch scheint es gelungen zu sein, von Langenhessen aus mit Hilfe einer zusätzlichen Haushälterin im Haus Schlachtensee seine Frau mit Matratzen und Wäsche zu versorgen, doch grämte er sich, „dass die Mutter nun wieder in Berlin sein muss und gerade jetzt, wo fast jeden Tag die Flieger Bomben werfen“.21
Anneliese Horch überlebte den Zweiten Weltkrieg, der mit der Kapitulation des Deutschen Reichs am 7. Mai 1945 endete. Sie starb am 25. März 1946 mit 69 Jahren. Aus den heute noch vorliegenden Unterlagen geht nicht hervor, wann August Horch seine Frau zum letzten Mal gesehen hat. Auf die Todesanzeige ließ er u.a. drucken: „Infolge der unglücklichen Zeit konnte von uns niemand in den letzten Stunden bei ihr weilen … auch ist es nicht möglich, dass ich sie zur letzten Ruhe begleite. Das alles lastet unsäglich schwer auf mir.“
Umzug in die sichere Provinz
Um diese Zeit wohnten August Horch, Else und Klaus Kolmar schon nicht mehr in Langenhessen. Die Verkündung der Berliner Viermächteerklärung vom 5. Juni 1945, nach der u.a. Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt werden sollte, und der Rückzug der anglo-amerikanischen Streitkräfte von der während der letzten Kämpfe vereinbarten Demarkationslinie Schwerin-Magdeburg-Leipzig auf die Westgrenze der sowjetischen Besatzungszone bis zum 1. Juli 1945 werden Horch und die Kolmars veranlasst haben, Sachsen mehr oder minder fluchtartig zu verlassen. Noch in den ersten Juli-Tagen 1945 folgten sie einer schon seit längerem vorliegenden Einladung ihres Freundes Willi Franke nach Schwarzenbach an der Saale südwestlich von Hof, also in der amerikanischen Zone.
Dort konnten sie jedoch nicht bleiben, weil alle Räume in Frankes Haus belegt waren. Quartier fanden sie im benachbarten Helmbrechts, wo sie in einem ungemütlichen Gasthof etwa drei Monate wohnten. Anfang Oktober 1945 bezogen sie ihren vorläufig letzten Wohnsitz, das Parterre der Villa der Fabrikantenfamilie Schoedel im acht Kilometer entfernten Münchberg. Die südwestlich von Hof gelegene Ortschaft lag an der Fernstraße 2 – die keine 60 Kilometer entfernten Audi- und Horch-Werke in Zwickau wären unter normalen Umständen schnell zu erreichen gewesen.
Seit 1944 hatte Horch an einem weiteren Buch gearbeitet, vermutlich die Fortsetzung seines ersten Buches „Ich baute Autos“. Allerdings war das Manuskript mit über 250 Schreibmaschinenseiten in Sachsen beschlagnahmt worden, und „wenn ich dieses Manuskript nicht wieder erhalte, dürfte aus dem Buch nichts wer-den …“. Außerdem hatten Horch und Kolmar in Zwickau und in Langenhessen persönliche Gegenstände und Geld zurückgelassen. Um zu retten, „… was vielleicht noch zu retten ist … hat sich ,Molch‘ am 7. Dezember (1945) nach dem besetzten Russland auf den Weg gemacht bei einer Kälte von 17 Grad … Die Energie, die sie besitzt, kennt ihr ja und wenn sie einen Plan gefasst hat, lässt sie ihn nicht mehr fallen.“
Horchs dunkle Ahnungen bestätigten sich: Else „wurde am 17. Dezember unter dem Vorwand des Spionageverdachts verhaftet und ins Untersuchungsgefängnis Zwickau überführt“. Nach „fünf Wochen Wassersuppe“ kam Else auf Intervention von Rechtsanwalt Rudolf Stöss zwar wieder frei, doch blieb der persönliche Besitz beschlagnahmt. Horchs Aufzeichnungen und Manuskripte sind bis heute verschollen, das geplante Buch konnte er nicht publizieren.
Der Verhaftung von Else folgte eine verbale Wiedergutmachung. Nach Mitteilung von Stöss, so schreibt Horch am 22.7.1946 an Saas, hätte die Kriminalpolizei in Zwickau garantiert, „es würde mir und auch Fr. Kolmar nichts passieren, wenn ich hinüberkäme, im Gegenteil, man würde mir eine schöne Wohnung zur Verfügung stellen. Der Russe hätte nichts gegen mich, er hätte nur anfangs mich auf dieselbe Stufe gestellt wie Krupp, hat aber eingesehen, dass ich ein Kriegsverbrecher nicht war.“
Horch und Kolmar folgten den Lockrufen nicht – warum auch: 1945 hatten die Sowjets die Werke der Auto Union in ihrer Zone demontiert und enteignet. Im selben Jahr gründeten Richard Bruhn, Carl Hahn und andere ehemalige Auto Union-Mitarbeiter in Ingolstadt ein „Zentraldepot für Auto Union-Ersatzteile GmbH“, was weitere Mitarbeiter anzog. Die Auto Union AG in Sachsen blutete auch personell aus.
In diese Zeit fällt nicht nur der Tod von Horchs Frau am 25.3.1946. Zwei Tage vorher war Eberhard Reichenbach gestorben. Horchs Adoptivsohn hatte als Ingenieur in Berlin gearbeitet, verlor dort gegen Ende des Kriegs seine Wohnung durch Bombentreffer und war mit seiner Frau nach Ludwigslust in Mecklenburg gezogen. Dort verschlechterte sich sein Gesundheitszustand, er wurde arbeitsunfähig und starb 40-jährig an einem Herzleiden.
Im Juni oder Juli 1946 wandte sich Horch schriftlich an Henry Ford im fernen Amerika mit der Bitte, bei der Militärregierung vorstellig zu werden, „damit ich einen großen Horch oder Audi fahren darf, und auch das nötige Benzin bekomme, das dürfte gelingen, da ja gegen mich gar nichts vorliegt, ich war kein Parteimitglied und in gar keiner Gliederung der Partei, im Gegenteil, ich stand auf der schwarzen Liste“. Horch hat von Ford nie eine Antwort erhalten.
Horchs Name stand sicherlich auf irgendwelchen Listen – wer im Dritten Reich war nicht erfasst worden. So hatte Horch nicht der NSDAP angehört, und auch seine schützende Hand über Else Kolmar wird manchem Parteibonzen ein Dorn im Auge gewesen sein. Ihn deswegen zu belangen, hatte jedoch keine lokale Nazi-Größe gewagt, weil August Horch zu prominent war und weil ja auch hohe Parteifunktionäre, Befehlshaber und Divisionskommandeure Autos fuhren, die seinen Namen trugen.
Vordringlicher als die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit war der tägliche Überlebenskampf, denn Zahlungen aus Chemnitz trafen nicht mehr ein. Horch schrieb einige „Artikel für die neu entstandenen Zeitschriften im Deutschen Reich und (konnte) also mit einer kleinen Einnahme rechnen“. Er überarbeitete sein Buch „Ich baute Autos“, das dann 1949 erschien.7 Schließlich übernahm Horch auf Vermittlung von Regierungsstellen ab 1. September 1947 den Posten eines Treuhänders und technischen Beraters bei der Südwerke GmbH, der während des Kriegs nach Bayern verlegten (LKW-)Produktionsfirma der Fried. Krupp AG in Essen.
Else erhielt ab Juli 1946 unerwartet Unterstützung durch die UNRRA. Die Nahrungsmittelpakete an sie betrachtete Horch als Wiedergutmachung dessen, „was sie in den vergangenen Jahren leiden musste“.33 Aus der Bemerkung kann gefolgert werden, dass Else Kolmar während der Nazizeit durchaus Anfeindungen ausgesetzt gewesen war.
Als hindernisreich stellten sich Elses Bemühungen heraus, als Sängerin aufzutreten. Die Versuche eines Würzburger Professors, ihr eine Rolle bei städtischen oder staatlichen Orchestern zu vermitteln, blieben offenbar erfolglos. Als Konsequenz daraus nahm Else wieder Gesangsunterricht. Doch als sie „jetzt wieder mehrmals in Bayreuth (auftreten sollte), musste sie leider absagen, weil sie im Hals erkältet war, so dass sie keinen klaren Ton hervorbringen konnte“.
Ein Vierteljahr später, im Juni 1947, durchkreuzte eine Operation vorerst alle weiteren Pläne in dieser Richtung. Der offenbar nicht unproblematische Eingriff mit mehrwöchigem Krankenhausaufenthalt hatte immerhin zur Folge, dass ihre Schwester Dorothea, jetzt Dorothy Saville, aus London und ihr Bruder Georg mit seiner Frau Hildegard aus Berlin zu Besuchen anreisten.
1947 auch begann die ostzonale Kommunistische Partei eine Verleumdungskampagne gegen Horch mit dem Ziel, ihm die 1939 verliehenen Ehrenbürgerrechte der Stadt Zwickau abzuerkennen. Nach Einspruch der Auto Union und des Rechtsanwalts Stöss wurde der Antrag jedoch abgelehnt, zumal Horch im Zuge der Entnazifizierungsmaßnahmen im US-Sektor als „Nicht-Betroffener“ eingestuft worden war. Verbittert stellte Horch fest, dass die Kommunisten „solche Sachen gegen den Mann an(zetteln), der die Automobil-Industrie nach Sachsen brachte, speziell nach Zwickau und der tausenden von Menschen Arbeit und Brot gegeben hat“.
Zwei wagen eine zweite Ehe
Dem für beide misslichen Jahr 1947 folgte eine Zeit privaten Glücks und beruflicher Anerkennung. Überragendes Ereignis war die Vermählung August Horchs, jetzt fast 80 Jahre alt, mit der knapp 47-jährigen Else Kolmar am 9. Juli 1948. Die Trauung fand in der evangelischen Kirche in Münchberg statt. Als Trauzeuge war u.a. Siegfried Doerschlag erschienen, Motorjournalist und Chefredakteur vom Informations- und Nachrichtendienst für Verkehr und Motorisierung „Der Doerschlag-Dienst“ (DDD).
Nach einem Besuch in Winningen kurze Zeit nach der Heirat machte Heinrich Saas seinem Freund das Kompliment, er hätte ihn „… für einen knappen Sechziger geschätzt“, sicherlich auch zurückzuführen auf „… Else, die treusorgende Hausmutter, (die) wie immer belebend auf alle Anwesenden (wirkte)“. Horch bedankte sich: „Damit hast Du unbedingt das Richtige getroffen, dass Frau Else der springende Punkt ist im Leben, immer freundlich, immer beweglich, immer besorgt, immer voll Liebe, unsere Ehe ist eine richtige, wie sie sein soll.“
Und an anderer Stelle, im Rückblick auf seinen 80. Geburtstag am 12.10.1948, schrieb Horch: „… an der Seite meines braven Molches muss man ja gesund und munter bleiben. Dieser lebhafte Mensch hält einem ja Tag für Tag auf der Höhe und umgibt einem mit wirklicher Liebe. Das ist sehr bedeutsam für mich …“.
Für kurze Zeit verließ Else Horch ihren ohnehin mit Reisen zu den Südwerken und zur Auto Union beschäftigten Mann und folgte einer Einladung nach England. Nachdem endlich alle Unterlagen und Visa beisammen waren – Reisen ins Ausland waren zu jener Zeit außergewöhnlich – hielt sich Else von Mitte November bis Anfang Dezember 1948 bei ihrer Schwester und deren Mann in London auf.
Ganz und gar unerwartet platzte Heinrich Saas’ Nachricht ins Haus, dass der Gemeinderat von Winningen im Januar 1949 beschlossen hatte, Horch die Ehrenbürgerrechte zu verleihen und gleichzeitig die Kaiserstraße in August-Horch-Straße umzubenennen. Die wegen der geringen Finanzkraft der Gemeinde ursprünglich bescheiden geplante Feierstunde wuchs sich zu einer „Mordssache“ aus, nachdem der Allgemeine Schnauferl Club zugesagt hatte, die Kosten zu übernehmen. Schließlich sollen am Ehrentag, dem 15. Juni 1949, an die 300 Gäste aus Politik, Wirtschaft, Autoindustrie und Verbänden in Winningen versammelt gewesen sein. Sie lauschten nicht nur den Lobreden der Vortragenden und auch Horchs „kurze(m), prächtig eindrucksvollen Überblick auf die Werdejahre des Autos“, sondern auch Else, die, von einer Pianistin begleitet, Dankes- und andere Lieder unter Beifall zum Besten gab.
Allmählich hatte sich auch außerhalb der eigentlichen Automobilindustrie herumgesprochen, dass Horch als einer der wenigen noch lebenden Autopioniere in Oberfranken wohnt und dass seine Frau zu musikalischen Einlagen bereit sei. So bemühten sich Gemeinden und Motorsport-Organisatoren, ihre Veranstaltungen mit den Horchs als Ehrengäste aufzuwerten. Meist wurden sie im offenen Horch durch die Straßen oder über die Rennpiste chauffiert, so geschehen während der 600-Jahr-Feier der Stadt Herzogenaurach und beim Hofer Dreieckrennen, beide im August 1949, und beim Motorrad-Meisterschaftslauf in Nürnberg im September 1949.
Schon im August 1947 hatte Richard Bruhn August Horch in Münchberg aufgesucht und ihn, wohl ohne große Schwierigkeiten, zum Wiederaufbau einer künftigen Auto Union Gesellschaft in den Westzonen gewinnen können. Nach dem formellen Teil der Gründungsversammlung am 3. September 1949 kamen, so erinnert sich Horch, „… ganz zuletzt … vier Damen von den Direktoren, natürlich Molch dabei, und später ertönte noch ihre Stimme, sie wurde ständig gebeten, etwas vorzutragen, in erster Linie bat Dr. Hahn darum.“
Noch im selben Jahr brachte die Auto Union den DKW Schnelllaster F 89 L und das DKW-Motorrad RT 125 W heraus. Ein Jahr später, im August 1950, ging der langerwartete DKW Personenwagen F 89 P Meisterklasse in Produktion. Schon vorher, am 17. Mai 1950, war die Meisterklasse ausgesuchten Personen, darunter August Horch, in Ingolstadt vorgeführt worden. Für ihn war die Vorstellung des ersten Nachkriegs-PKW der Auto Union zugleich der letzte offizielle Auftritt in der Öffentlichkeit.
Der lebenslustige und bis dato vitale Horch litt seit Anfang 1949 unter zunehmender Müdigkeit und unter geschwollenen und schmerzhaften Extremitäten, die Krankenhaus- und ambulante Behandlung erforderlich machten. Schon vorher hatte Else ihn vom Autofahren und von der Korrespondenz, die er so eifrig gepflegt hatte, entlastet. „Um die Jahreswende 1950/51 setzte plötzlich ein körperlicher Verfall ein, den auch die hinzugezogenen Spezialisten aus Nürnberg und Ingolstadt nicht aufzuhalten vermochten.“2 Am 3. Februar 1951 verstarb August Horch im 83. Lebensjahr an seinem Wohnsitz in Münchberg. Auf seinen Wunsch hin ließ Else ihn nach Winningen überführen, wo er am 8. Februar 1951 beigesetzt wurde.
Neuanfang in München
Mit August Horch verlor die deutsche Automobilwirtschaft einen „verehrungswürdigen Pionier der Automobiltechnik … (der) … mit leidenschaftlicher Hingabe an der Entwicklung der Kraftwagen arbeiten konnte …“. Dabei gerieten allerdings andere Momente aus dem Blickwinkel mit der Folge, dass sich Horch, wie auch weitere Techniker und Wissenschafter, durch eine bemerkenswerte politische Naivität auszeichnete. Bereits im Ersten Weltkrieg hatte er „… seine Dienste … als Mitglied fast aller Kommissionen, die sich mit … Produktionserhöhung und … Materialbeschaffung … beschäftigten … dem Großen und Ganzen (geweiht und) … alle diese freiwillig übernommenen Pflichten nicht nur mit … Liebe und Treue erfüllt, … sondern auch mit einer Uneigennützigkeit und einer Verachtung von Geld und Gut, wie deren ebenfalls nur ein ganz geläuterter Charakter fähig ist.“
Damit sind die Probleme bereits angedeutet, die auf Else Horch zukamen. Zum Glück erwies sich die Auto Union GmbH in Ingolstadt als generös und setzte die Zahlungen, die sie bisher an August Horch geleistet hatte, an dessen Witwe fort.
Auf dieser Basis konnte Else Horch einen neuen Lebensabschnitt ohne ihren Mann beginnen, der sie in Deutschlands schlimmster Zeit vor einem ungewissen Schicksal bewahrt hatte. Bei allen Einschränkungen und Entbehrungen, die der Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit mit sich brachten, hatte Else mit und dank August Horch, verglichen mit anderen Schicksalen, ein einigermaßen sicheres und angenehmes Leben führen können.
Elses Sohn Klaus hatte in Crimmitschau die Bibliothekarin Elfriede Tippner, geb. Seidel, kennen gelernt, die er im Dezember 1951 heiratete. Zu dritt – Elfriede hatte ihren damals 10-jährigen Sohn Holm mit in die Ehe gebracht – bewohnten sie zeitweise die Schoedel’sche Villa, zogen jedoch wenig später nach München. Klaus hatte in Münchberg mit Kleider- und Gardinenstoffen gehandelt und sie zum Teil auch selbst herstellen lassen. Ob er nach seinem Umzug nach München als Reiseinspektor für die Auto Union Ingolstadt tätig wurde, konnte nicht nachgewiesen werden1.
Für Else bestand nun keine Veranlassung mehr, in Münchberg zu bleiben. Ihre Geburtsstadt Berlin als alternativer Wohnort schied wohl wegen der politischen Lage aus, für Winningen hat sie sich nie erwärmen können. So siedelte sie nach München über. Zunächst wohnte sie in der Euckenstraße, ab 1958 in der Passauer Straße.
Öffentliche Auftritte wie seinerzeit mit August Horch gab es nun nicht mehr, sieht man von den Abenden ab, an denen sie in Münchner Weinstuben vorsang, wenn sich die Gelegenheit ergab. Überhaupt war sie „lustig und gut drauf“, erinnert sich Holm Tippner, und Else Saas, die Tochter von Heinrich Saas, beschreibt sie als lieb, humorvoll und umgänglich. „Außerdem konnte sie über sich selbst lachen.“ Auf die Winninger jedoch wirkte sie im Juni 1949, als August Horch zum Ehrenbürger gekürt wurde, in ihrem durchsichtigen Kleid als zu extravagant. Eine Diva neben dem immer bescheiden auftretenden Horch, einem geachteten Sohn der Gemeinde? „Das Dorf war in Aufruhr“, rekapituliert eine Zeitzeugin.
Wenn es die finanziellen Verhältnisse erlaubten, unternahm sie kurze Reisen, ging ins Theater oder in die Oper. So muss es für sie ein ganz besonderes Ereignis gewesen sein, als ihr die Auto Union einen DKW Junior zur Verfügung stellte.48 Das Auto hegte und pflegte sie und meldete es in der Winterzeit ab.
Weniger glücklich war Else über die 1960 vollzogene Trennung ihres Sohnes von Elfriede, zu der sie ein herzliches Verhältnis gefunden hatte. Die beiden Frauen besuchten mehrmals Dorothy in England, auch nachdem Elfriede geschieden worden war. Klaus starb am 16. August 1970 mit nur 46 Jahren an einem Herzinfarkt und wurde auf dem Münchner Waldfriedhof beigesetzt.
Knapp vier Jahre später, am 25. März 1974, fand eine befreundete Nachbarin Else Horch tot in ihrer Wohnung auf. Sie war an Erbrochenem erstickt. Elfriede Tippner-Kolmar regelte den Sterbefall und ließ Else Horch neben ihrem Sohn auf dem Waldfriedhof in München bestatten.
Dort erinnert heute nichts mehr an Else Horch und an ihren Sohn Klaus Kolmar. Das Grab im alten Teil des Friedhofs (Parzelle 237, Reihe 3, Nr. 41) wurde 1990 aufgelöst. Seitdem klafft dort eine Lücke – ist das alles, was von einem Menschen bleibt?