Otto Vu!
Autor: Wolfgang M. Buchta
Ende der 1940er arbeitete Fiat an einer Limousine mit V8-Motor, die nie in Produktion gehen sollte, und weil der Motor schon einmal vorhanden war, bauten sie darum herum einen Sportwagen … Wolfgang M. Buchta durfte eines der raren Exemplare fahren, und Ulli Buchta hat einige der 114 gebauten Stück photographiert …
Was vorher geschah
Die frühe Geschichte von Fiat ist – nicht zuletzt in der Fiat 1100-Geschichte von Winfried Kallinger (AC 2020/02) – gut dokumentiert.
Die „Fabbrica Italiana Automobili Torino“ wurde am 11. Juli 1899 im Palazzo Bricherasio im Zentrum von Turin von neun wohlhabenden Bürgern der Stadt gegründet, um am „Boom“ der Automobilindustrie, der in Frankreich und Deutschland bereits begonnen hatte, teilzuhaben.
Die Anfänge waren erfolgversprechend: Bereits in den Jahren 1899/1900 wurden rund 20 Stück des Fiat 3,5 HP gefertigt. In den folgenden Jahren wurde der Fiat 3,5 HP vergrößert und weiterentwickelt und 1903 kam der Fiat 12 HP auf den Markt, das erste Modell, das – bis in die USA – exportiert werden sollte. Die Stückzahl war mit 134 Stück im Jahre 1903 noch bescheiden, sollte aber in den folgenden Jahren rasch ansteigen.
Unter den neun Gründervätern etablierte sich bald ein „Primus inter Pares“, ein „Erster unter Gleichen“ heraus. Giovanni Agnelli, Kavallerieleutnant und Sohn eines Großgrundbesitzers wurde 1900 zum „Amministratore Delegato“ also Direktor von Fiat ernannt und sollte das Unternehmen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs leiten und zu ungeahnten Höhen führen.
Mit dem Fiat S74 betrat Fiat 1911 die Welt des Motorsports und siegte – danke 14 Litern Hubraum und 190 PS Leistung – beim Großen Preis von Amerika.
Bis 1912 hatte Fiat kleinste Serien exklusiver Fahrzeuge gebaut, ehe mit dem Fiat Zero die Großserienproduktion und der Eintritt in den Massenmarkt begann.
Mit dem Fiat S 57/14 (4,5 Liter Hubraum, 135 PS) war die Marke aus Turin beim Großen Preis von Frankreich 1914 und in den folgenden Jahren bis 1921 erfolgreich am Start.
1916 entstand im Stadtteil Lingotto die legendäre – heute denkmalgeschützte – Fabrik mit einer 1 km langen Teststrecke am Dach.
Nach einem – wirtschaftlich – erfolgreichen Ersten Weltkrieg wuchsen die kommerziellen und sportliche Erfolge. Mit den Rennwagen der Typen 801 bis 806 war die Marke bei Grand Prix Rennen erfolgreich, und mit dem Fiat 520 „Superfiat“ stellte Fiat einen V12 von 6,8 Liter Hubraum der absoluten Spitzenklasse vor. Dass davon nur fünf Stück gebaut wurden, war dem Prestigegewinn nur wenig abträglich.
1924 fuhr Ernest Eldridge mit dem Fiat Mefistofele, einem umgebauten Fiat SB4 aus dem Jahre 1908 234,980 km/h – neuer absoluten Geschwindigkeitsrekord für Automobile!
Beim Grand Prix von Italien im Jahre 1927 in Monza präsentierte Fiat mit dem Typ 806 einen 12-Zylinder von 1.500 ccm, der dank Kompressor 187 PS leistete. Der Typ 806 gewann auf Anhieb sein erstes Rennen – und Fiat zog sich vom Motorsport zurück. Für die nächsten 20 Jahre oder so konzentrierte man sich in Turin – höchst erfolgreich – auf den Massenmarkt.
Rettung in Amerika?
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs, den Italien je nach Leseart verloren oder doch gewonnen hatte, gehörten auf jeden Fall die italienische Wirtschaft und damit – als größtes Industrieunternehmen des Landes – Fiat zu den Verlierern.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit war Fiat – als kriegswichtiger Betrieb – unter öffentliche Verwaltung gestellt worden, und sowohl Präsident Giovanni Agnelli als auch Geschäftsführer Vittorio Valletta wurden – vorerst – aus ihren Positionen entfernt.
Das „Comitato di liberazione nazionale (CLN)“ setzte vier politisch unverdächtige Manager – darunter Gaudenzio Bono, den Direktor einer LKW-Tochter von Fiat, als Geschäftsführer – ein.
Mit dem Typ 101 entstand bei Fiat das erste neu entworfene Nachkriegsmodell, aber über die Richtung war man sich im Management vorerst nicht ganz einig.
Die erste Version – Tipo 101-E1 – war klar als Nachfolger des Fiat 1100 positioniert. Mit nur rund 800 kg sollte er deutlich leichter sein und damit bessere Fahrleistungen bei geringeren Kosten bieten. Der von Chefkonstrukteur Dante Giacosa, dem Schöpfer des Topolino, vorgesehene Motor hatte 1270 ccm und eine Leistung von 36 PS. Der Bau von zwei Prototypen wurde in Angriff genommen.
Inzwischen durfte Generaldirektor Vittorio Valletta wieder an seinen Posten zurückkehren. Tragik am Rande: Gründer und Präsident von Fiat Giovanni Agnelli starb am 16. Dezember 1945 in Turin an einer Lungenentzündung – vier Tage bevor die Beschlagnahmung von Fiat aufgehoben und das Werk an die Familie Agnelli retourniert wurde.
Vittorio Valletta war mit 101-E1 gar nicht einverstanden. Valetta sah die einzige Chance für Fiat am amerikanischen Markt und durch Kredite amerikanischer Banken – und das neue Modell sollte zum Türöffner werden …
Der Tipo 101 sollte also wesentlich größer und geräumiger werden – ein bequemer 5/6-Sitzer mit einer vorderen Sitzbank für drei Personen – was eine Lenkradschaltung notwendig machte – und einen leistungsstärkeren Motor, der eine Spitze von 120 km/h ermöglichen sollte.
Giacosa war von dieser Entscheidung nicht begeistert, aber wie auch immer.
Als Motor war der vergrößerte Motor des Tipo 101-E1 vorgesehen, aber vom 202-E2 dürfte nicht einmal ein Prototyp entstanden sein, denn Giacosa und ein paar andere Fiat-Direktoren traten eine Studienreise nach Detroit an und kamen mit einer Fülle neuer Ideen zurück.
Der Tipo 101-E3 war schon recht nahe am späteren Serienmodell, dem Fiat 1400. Mit eleganter, hochmoderner Pontonkarosserie und geräumigem Innenraum konnte der neue Fiat durchaus mit den Mitbewerbern aus Übersee mithalten. Der Motor war aus steuerlichen Gründen mit 1300 ccm Hubraum geplant.
Wie sich herausstellte, war der Wagen für 1300 ccm zu schwer und man einigte sich schließlich auf 1400 ccm mit 44 PS – ausreichend für die angestrebte Spitze von 120 km/h – und Ende 1949 ging der 101-E3 als Fiat 1400 in Serienfertigung, wurde am Genfer Saloon 1950 präsentiert und wurde zum Erfolgsmodell.
Ooops, jetzt hätten „wir“ fast den amerikanischen Markt vergessen, wo ein Vierzylinder von 1,4 Liter Hubraum nicht sehr erfolgversprechend schien.
Dante Giacosa arbeitete eine ganze Reihe von Vorschlägen aus: Ein auf zwei Liter vergrößerter Vierzylinder, ein Sechszylinder-Reihenmotor, ein V6 oder sogar ein V8 – einzige Vorgabe: Auch der größere Motor musste im Motorraum des Fiat 1400 Platz finden. Damit war der Sechszylinder-Reihenmotor out und beim V6 befürchtete Giacosa Probleme mit der Laufruhe. Ein „konventioneller“ V8 mit 90 Grad Winkel war zu breit, und so einigte man sich dann – vier Zylinder sind für Amerika zu wenig – auf einen V8, dessen Zylinder im Winkel von 70 Grad angeordnet waren und einem Hubraum von 1.996 ccm, also knapp unter der magischen Zwei-Liter-Grenze.
Der erste Testmotor, der Tipo 104.000, lief im November 1949 am Prüfstand und bei Pininfarina wurde ein Prototyp mit verlängertem Radstand in Auftrag gegeben, aber irgendwie schien das Management das Interesse am Projekt verloren zu haben.
Valetta, der eigentliche Initiator des Projekts schien desinteressiert, und für Giacosa war der Wagen sowieso zu groß und zu schwer für einen Motor von nur zwei Liter Hubraum.
Der Fiat 1400 wurde in Italien und Europa zu einem großen Erfolg und war die Basis für zahllose Spezialkarosserien kleiner und kleinster Karosseriebauer. Auf den amerikanischen Markt – wo ohnedies 33% Einfuhrzoll angefallen wäre – konnte man verzichten.
Eigentlich könnte hier unsere Geschichte enden und der Tipo 104-Motor als kleine Fußnote in die Automobilgeschichte eingehen, aber …
Was machen wir jetzt mit dem Motor?
Wir wissen nicht genau, wie es abgelaufen ist, aber eines Abends saßen ein paar Ingenieure aus dem Team von Dante Giacosa in einem guten Restaurant in Turin beisammen, aßen feine, italienische Spezialitäten, tranken das eine oder andere Glas Chianti und sinnierten über den Tipo 104, den V8-Motor, der auf Anordnung des Managements konstruiert und gebaut worden war, den aber jetzt keiner wollte. Ein Sportwagen wäre doch ein schönes Projekt …
Mit Billigung und Unterstützung durch ihren Chef – aber ohne Wissen des Managements – machten sie sich an die Arbeit, den Limousinen-Motor in einen Motor für einen Sportwagen zu verwandeln. Ein modifizierter Block, geänderte Ölpumpe und Steuerkette, Doppelvergaser, Nockenwellen mit geändertem Profil, verstärkte Lager, überarbeitete Kurbelwelle, höhere Kompression, … Schritt für Schritt wurde der Tipo 104 an seine neu angedachte Rolle herangeführt. Die Leistung lag mittlerweile bei respektablen 105 PS.
Ein paar naheliegende Verbesserungen – obenliegende Nockenwellen oder eine fünffach gelagerte Kurbelwelle ließen sich nicht realisieren, und der Motor blieb notgedrungen ein Kompromiss.
Blieb noch ein kleines Problem bis zur Verwirklichung des Traums: Es galt zuerst das oberste Management zu überzeugen.
Beim entscheidenden Treffen im August 1950 zeichneten die Techniker ein rosiges Bild, aber der entscheidende Anstoß kam von außen, vom ACI. Für das Jahr 1951 hatte der „Automobile Club d’Italia“ eine Meisterschaft der Klasse „Gran Turismo Internazionale“ ausgeschrieben – für Touren- und Sportwagen bis zwei Liter Hubraum. Mit dem Tipo 106 Sport genannten Sportwagen wäre Italiens größter Automobilbauer dabei …
Bereits im September 1950 kam die offizielle Genehmigung zum Bau von vorerst einmal sechs Fahrzeugen. Da die Zeit knapp bemessen war und Konstruktionsbüro und Prototypenbau ohnedies chronisch überlastet waren, wurde der Auftrag „outgesourced“, wie man heute sagen würde.
Vom Fiat-Werk in Lingotto in die Via Leonardo da Vinci waren es keine 10 km, und dort residierte die „Società Italiana Applicazioni Trasformazioni Automobilistiche“, besser bekannt unter dem Akronym „Siata“.
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte Giorgio Ambrosini mit dem Automobilbau – Markenname Vittoria – begonnen und widmete sich ab 1926 unter dem Markennamen „Siata“ der Entwicklung von Tuningteilen, hauptsächlich zur Leistungssteigerung von Fiat-Modellen. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte Italiens ältester Tuningbetrieb auch eigene Autos auf die Räder, aber zu Fiat bestand immer eine gute Beziehung.
Und so wurde Ambrosini mit dem Bau resp. der Endmontage von sechs Exemplaren des neuen Fiat Sportwagen beauftragt. Da die interne Bezeichnung „Tipo 106“ nicht sehr werbewirksam klang, wollte man im Namen auf den – für Italien exotischen – V8-Motor hinweisen, schreckte aber vor „Fiat V8“ zurück, da man (fälschlicherweise) annahm, dass Ford sich für ihren berühmten Ford V8 den Namen sicherlich schützen hätte lassen und bezeichnete den neuen Sportwagen kurzerhand als „Fiat 8V“, was auf italienisch „Fiat Otto Vu“ auch sehr gut von der Zunge ging.
Die mechanischen Komponenten – Vorderachse mit Einzelradaufhängung, Motor, Getriebe, … kamen aus dem Fiat-Baukasten – das Differential beispielsweise vom Fiat Campagnola – und wurden von Fiat an Siata geliefert.
Auch der Entwurf der Karosserie stammte von Fiat oder genauer gesagt von Fabio Luigi Rapi, der zu dieser Zeit gerade Leiter der Abteilung „Ufficio Tecnico Carrozzeria FIAT“ in Lingotto war.
Rapi schuf einen knapp geschnittenen, sportlichen Zweisitzer, der eine interessante, doppelwandige Karosseriestruktur hatte, um ausreichende Festigkeit bei möglichst geringem Gewicht zu erreichen. Die Form wurde im Windkanal des Politecnico di Torino getestet und für gut befunden. Die Spitze lag bei über 200 km/h. Mit der Ganzstahlkarosserie von Rapi lag das Gesamtgewicht bei 950 kg.
Im Inneren war der Beifahrersitz etwas nach hinten versetzt, um dem Fahrer mehr Raum zu geben. Die Instrumente stammten größtenteils aus dem Fiat 1400.
Nach dem Bau eines Prototypen und erfolgreichen Tests – die unter großer Geheimhaltung erfolgten, denn offiziell gab es das Auto ja noch nicht –, erging der Auftrag zum Bau von sechs Exemplaren an Siata. Diese Exemplare sind an den von Siata für das Chassis verwendeten ovalen Rohren identifizierbar. Die späteren, bei Fiat gebauten Exemplare verwenden runde Rohre.
Die ersten sechs 8V unterscheiden sich in zahlreichen Details voneinander, wurden im Laufe der Zeit umgebaut resp. neu karossiert und geben den Experten oft Rätsel auf.
Die offizielle Präsentation hatte der Otto Vu am 20. März 1952 in Genf, wo vermutlich Chassisnummer 000002 ausgestellt war. Nach der Show wurde der Wagen an Ovidio Capelli, einem großen Fiat-Händler aus Mailand, der nach dem Ausstieg von Giovanni Lurani, den Rennstall „Scuderia Ambrosiana“ übernommen hatte, ausgeliefert.
Die Bemühungen um Geheimhaltung hatten sich gelohnt, denn der Otto Vu war die Sensation des Genfer Salons. Die Presse überschlug sich vor Begeisterung, aber vereinzelt gab es auch kritische Stimmen zur Karosserieform und zum „unitalienischen Vier-Augen-Gesicht“ (Auto Motor und Sport). Jene Journalisten, die den 8V bald darauf selbst fahren durften, waren voll des Lobes über Fahrleistungen und Straßenlage.
Motorsport!
Das erste Rennen der neuen „Gran Turismo Internazionale“ Zwei-Liter-Serie war der Giro di Sicilia am 9. März 1952. Alle Werksteams waren am Start – Alfa Romeo, Ferrari, Lancia und Siata – lediglich Fiat ließ dieses Rennen aus. Die Sensation von Genf zehn Tage später war dem Team auf Turin wohl wichtiger.
Aber indirekt war der Otto Vu doch am Start, denn Partner Siata durfte den V8-Motor und weitere Komponenten von Fiat für den Siata 208 CS verwenden, und ein Prototyp der Siata 8V war in Sizilien am Start. Höchstvermutlich unter genauer Beobachtung und wohlwollender Unterstützung von Fiat. Und es war keine Enttäuschung: Für den ersten Einsatz eines komplett neuen Wagens war der zweite Platz in der Zwei-Liter-Sportwagen-Klasse (12. Rang gesamt) des Teams Franco Rol/Gino Munaron ein höchst respektables Resultat.
Aber indirekt war der Otto Vu doch am Start, denn Partner Siata durfte den V8-Motor und weitere Komponenten von Fiat für den Siata 208 CS verwenden, und ein Prototyp der Siata 8V war in Sizilien am Start. Höchstvermutlich unter genauer Beobachtung und wohlwollender Unterstützung von Fiat. Und es war keine Enttäuschung: Für den ersten Einsatz eines komplett neuen Wagens war der zweite Platz in der Zwei-Liter-Sportwagen-Klasse (12. Rang gesamt) des Teams Franco Rol/Gino Munaron ein höchst respektables Resultat.
Um die vorgeschriebene Mindeststückzahl von 30 Fahrzeugen zu erfüllen, begnügte sich Fiat damit, 30 (oder auch mehr) Motoren zu produzieren – und kam damit bei der Sportbehörde durch und durfte bei der Mille Miglia an den Start gehen.
Als in den frühen Morgenstunden des 3. Mai 1952 der Start zur Mille Miglia erfolgte, waren drei Fiat Otto Vu (sowie drei Siata 280 CS) am Start. Die drei Fiat-Teams waren Auricchio/Bozzini Montanari/Montanari und Diego Capelli/Veronelli. Diego Capelli war der Neffe von Ovidio Capelli, der Chassis #000002 direkt nach Genf bekommen hatte. Vermutlich war dieses frühe Exemplar in Brescia am Start.
Die Fiat 8V erregten großes Interesse gleichermaßen unter Zusehern und Presse und standen nur im Schatten der neuen Mercedes 300 SL von Kling, Lang und Caracciola.
Von 600 genannten Rennwagen waren 502 am Start und 275 Teams sollten das Rennen auch erfolgreich beenden. Die Fiat 8V waren trotz überlegener Straßenlage, den 2-Liter-GTs von Lancia und Alfa Romeo unterlegen. Luigi Fagioli holte sich auf Lancia Aurelia B20GT mit einem dritten Gesamtrang überlegen den Klassensieg.
Der beste – und einzige – Otto Vu im Ziel waren Auricchio/Bozzini mit einem beachtlichen 15. Gesamtrang, zwei Plätze vor dem besten Alfa Romeo. Vier Plätze höher in der Wertung landeten Rol/Munaro mit dem besten Siata 208 CS auf Platz 11.
Diego Capelli und Supremi Montari mit den beiden anderen Fiat 8V fielen durch Unfall kurz nach dem Start aus.
In Summe konnte Fiat mit dem Resultat – zwei Plätze unter den ersten 20 bei 502 Startern – zufrieden sein. Weniger zufrieden waren wohl die beiden Fahrer, die ihre Wagen, glücklicherweise ohne Personenschaden, gecrashed hatten. Nicht nur waren die Fahrzeuge beschädigt und das Rennen verloren, es war auch schwer Ersatz/Reparatur zu finden. Fiat begann erst Mitte des Jahres mit der Serienproduktion und konnte nicht helfen, so mussten sich die glücklosen Helden an unabhängige Karosseriebauer wenden.
Montanari wendete sich an Carrozzeria Motto und Ovidios Unfallauto landete bei Zagato, der den Wagen – in der Rekordzeit von 15 Tagen – mit einer superleichten Karosserie versah.
Dies war der Beginn von zwei, für den Otto Vu charakteristischen „Bräuchen“: Die Fiat 8V wurden vielfach umgebaut und mit neuen Karosserien versehen, was den Historikern heute das Leben schwer macht, und Zagato wollte zum produktivsten Karosseriebauer für den 8V werden.
Dank der Meisterleistung von Zagato war Ovidios 8V – um 100 kg erleichtert – bereit für die Anfang Juni anstehende „Coppa della Toscana“. Ovidio kam hinter zwei Lancias in der Zwei-Liter-Klasse auf den 3. Platz – eine respektable Leistung, wobei es sicher hilfreich war, dass die Alfa Romeo-Fahrer nach unerfreulichen Diskussionen um die Homologation nicht am Start waren.
Eine Woche später beim „Giro dell’Umbria“ mit Start in Perugia landete Ovidio dank geänderter Klasseneinteilung in der Klasse GT über 750 ccm und konnte erstmals mit dem 8V einen Klassensieg erringen.
Die Targa Florio eliminierte alle großvolumigen Favoriten mit verlorenen Rädern und trockenen Tanks, sodass im Gesamtklassement drei Lancia Aurelia vorne lagen, gefolgt von einem 1100er Ermini und Oviedo mit dem blau/schwarzen 8V – in den Farben von Inter Mailand – am fünften Platz – vor den überlebenden Ferraris und Alfa Romeos. Die üppigen Preisgelder der Targa Florio machten die Reise nach Sizilien zu einem guten Geschäft.
Für die nächsten drei Rennen der Saison zog der Tross in den Norden Italiens – „Coppa d’Oro delle Dolomiti“ in Beluno, „Stella Alpina“ und „Coppa Inter Europa“ auf der Rennstrecke von Monza.
Fassen wir uns kurz: Bei der „Coppa d’Oro delle Dolomiti“ kam das Onkel-Neffe-Team Ovidio und Diego Capelli auf den siebenten Platz in der Gesamtwertung und gewann die Klasse über 1500 ccm – vor den Lancias.
„Stella Alpina“: Nach vier(!) Fahrtagen lag Capelli – hauchdünn aber doch – auf Platz 1 in der Gesamtwertung.
Die „Coppa Inter Europa“ war ein Zwei-Stunden-Rennen im Vorprogramm des Grand Prix von Italien und nach zwei Stunden war Capelli mit 500 m(!) Rückstand Gesamt-Zweiter und hatte „zum Drüberstreuen“ die schnellste Runde gefahren.
Eine großartige erste Saison des Otto Vu war zu Ende und im Alter von 51 Jahren lag Ovidio Capelli in der italienischen Meisterschaft voran, was er mit einem dritten Platz im allerletzten Rennen – ein Bergrennen bei Bologna – fixieren konnte.
Die Saison 1953 verlief auch erfolgreich, konnte aber mit dem Jahr 1952 nicht mithalten. Höhepunkt der Saison war wohl das 24-Stunden- Rennen von Le Mans, in dem Chassisnummer 000033 mit Giovanni Lurani und Norbert Mahe (und Ovidio Capelli als Reservefahrer) am Start war. „War der Höhepunkt“ ist vielleicht die falsche Formulierung – „hätte sein können“ ist wohl passender, denn nach nur acht Runden und knapp einer Stunde war das Rennen für den tapferen, kleinen Fiat bereits zu Ende …
Der Otto Vu wurde bis Anfang der 1960er-Jahre im Motorsport eingesetzt. Er war regelmäßig bei Mille Miglia und Targa Florio am Start, aber auch zahlreichen kleineren Rennen, bei Rallyes – z.B. Rallye Sestriere – und fallweise auch im Ausland – neben Le Mans 1953 auch am Maloja und Gran San Bernardino (Schweiz), Casablanca (Marokko), Grand Prix von Schweden, Avus oder Gaisbergrennen. Der letzte dokumentierte Einsatz war bei der Targa Florio im Jahre 1964.
114 rare Vögel
Von Fiat Otto Vu entstanden 114 Stück, von denen wohl keine zwei absolut identisch sind. Etliche wurden im Laufe der Zeit modifiziert oder überhaupt neu karossiert. Fünf „Carrozzerias“ hatten hier ihre Hände im Spiel.
Fiat Carrozzeria Speciale
Die meisten Karosserien (58 Stück nach dem Entwurf von Rapi, aber alles Zahlen in Zusammenhang mit dem 8V sind mit Vorsicht zu genießen) entstanden beim werkseigenen Prototypenbau „Carrozzeria Speciale“, wo zwei – in Motorleistung und Scheinwerfer – leicht unterschiedliche Serien – 1953/52 und 1953/54 (jetzt mit 115 PS und vereinzelt sogar mit 127 PS Leistung) entstanden sind. Ein Einzelstück, das allerdings bis heute im Fiat-Museum steht, ist der Otto Vu Vetroresina mit Kunststoffkarosserie.
1954 kostete ein Fiat 1100 TV 1.225.000 Lire. Ein voll ausgestatteter Fiat 8V mit leistungsgesteigertem Motor von 115 PS kam auf 2.850.000 Lire, also etwas mehr als das Doppelte. Heute ist der Preisunterschied zwischen den beiden Fiat erheblich größer …
Carrozzeria Ghia
Bei Carrozzeria Ghia entstanden zwei grundsätzlich unterschiedlich eigenständige Coupés.
Chassisnummer 106.000042 bekam eine Karosserie nach einem Entwurf von Mario Boano und blieb ein Einzelstück.
In größerer Stückzahl – vielleicht 15 Exemplare, also fast eine Großserie – wurde der Fiat 8V Supersonic gebaut, der eine interessante Geschichte hat, die 1947 begann, als Chuck Yeager mit der Bell X-1 als erster die Schallmauer durchbrochen hat. Die Überschallgeschwindigkeit war modern und in aller Munde.
Für die XX. Mille Miglia im Jahre 1953 war der Schweizer Herrenfahrer Robert Fehlmann auf der Suche nach einem besonderen Fahrzeug und betraute den Tuner Virgilio Conrero mit der Ausführung.
Conrero entwickelte ein Fahrgestell, dessen Vorderachse vom Fiat 1400 und dessen Hinterachse von Lancia Aurelia stammten. Der Motor entnahm Conrero einem Alfa Romeo 1900, der mit vier Dell’Orto-Vergasern stark modifiziert war. Für eine schnittige Karosserie wandte sich Conrero an Giovanni Savonuzzi, dem Chefentwickler von Ghia. Die stromlinienförmige Karosserie mit langer Motorhaube und kurzem Heck hatte alle Zitate aus der Luft- und Raumfahrt, die sich auf der Länge eines Zweisitzers unterbringen ließen. Der passende Name war rasch gefunden: Supersonic!
Der Supersonic wurde rechtzeitig für die Mille Miglia fertig, Robert Fehlmann war am Start und überschlug sich mit dem Supersonic. Fehlmann überlebte, die Aluminium-Karosserie des Supersonic nicht …
Und was hat dieser Alfa-Romeo-Fiat-Lancia-Ghia-Special mit unserer Geschichte zu tun?
Ob des Aufsehens, den die Supersonic-Karosserie erregt hatte, beschloss man bei Ghia die Produktion einer kleinen Serie – 20 Stück waren angepeilt – und Ghia wählte als Chassis, das des Otto Vu.
14 oder 15 Stück sollen davon entstanden sein, die hauptsächlich für den US-Markt gedacht waren, aber da machte Fiat dem Karosseriebauer einen Strich durch die Rechnung.
Fiat traute den amerikanischen Werkstätten nicht zu, einen Motor wie den Tipo 104 ordnungsgemäß zu servicieren – das könnten nur italienische Mechaniker! – und lehnte daher den Export ab. Kleine Ironie, dass der für die USA konzipierte V8 nicht (offiziell) in die USA exportiert wurde …
Wieder auf der Suche nach einem geeigneten Chassis landete Ghia bei Jaguar (wahrscheinlich drei Stück) und Aston Martin (ein Stück) und eine Supersonic-Karosserie (von einem 8V) landete auf dem Chassis einer Cobra 427 …
Um der Geschichte des Supersonic noch eine Wendung hinzuzufügen, erwarb Virgil Exner, der Chef-Designer von Chrysler, einen Fiat 8V Supersonic und schuf eine modifizierte Zeichnung, dass diese auf ein Fahrgestell von Chrysler passte. Fiat, Chrysler-Chassis und die Pläne wurden zu Ghia geschickt und das Resultat, der DeSoto Adventurer II, wurde am 16. Juni 1954 anlässlich der Eröffnung des neuen Chrysler-Testgeländes präsentiert.
Pininfarina
Der große Pininfarina war offenbar mit anderen Aufträgen so ausgelastet, dass er nur einen einzigen 8V einkleidete. Der Fiat 8V Berlinetta Speciale blieb ein Einzelstück.
Vignale
Bei Vignale entstanden zwar nur acht Fahrzeuge auf Basis der 8V, aber darunter der einzige ursprünglich als Cabrio gebaute Fiat 8V und die vielleicht spektakulärste Version.
Vignale baute fünf – mehr oder weniger identische – Coupés sowie den bereits erwähnten Fiat 8V Spider (1953) mit Chassisnummer 106.000050, der 2015 bei RM Sotheby’s um 1,12 Mio. EUR versteigert wurde.
Einzelstücke waren auch das Fiat 8V Coupé Corsa, von Casimiro Toselli bei der Rallye Sestriere 1955 und bei einigen weiteren Rennen – mit eher bescheidenem Erfolg – eingesetzt.
Eine spektakuläre Designstudie war der Fiat 8V Démon Rouge; der „Rote Teufel“ ist ein Entwurf von Giovanni Michelotti, der bereits 1955 den „Coppa Campione d’Italia“ Concours d’Elegance gewinnen konnte und 2004 „Best of Show“ beim Concours d’Elegance im Palace Het Loo in Apeldoorn war. Heute steht der Démon Rouge im Louwman Museum in Den Haag.
Zagato
war von den unabhängigen „Carrozzerias“ wohl der Produktivste, denn er dufte 30 bis 32 8V-Chassis mit (neuen oder geänderten) Aufbauten versehen.
Wie bereits berichtet, begann die gute Zusammenarbeit mit dem Wiederaufbau des Wagens von Ovidio Capelli, dessen zerstörte Werkskarosserie Zagato durch eine rund 100 kg leichtere Aluminiumkarosserie ersetzte.
Chassisnummer 0005 bekam eine Spyder-Karosserie und wurde zum Fiat 8VZ Spider. Später bekam er eine andere offene Karosserie und war unter anderem beim Grand Prix von Schweden am 7. August 1955 am Start.
Unter der Bezeichnung „Fiat 8V Coupé Elaborata“ wurden fünf Fahrzeuge mit Werkskarosserien bei Zagato mehr oder weniger stark modifiziert. Einige davon bekamen das für die späteren Fiat 8VZ Coupés (und andere Zagato-Konstruktionen) typische „Double Bubble“-Dach.
Dieses „Double Bubble“-Dach war nicht nur ein optisches Markenzeichen von Zagato, sondern erfüllte gleich mehrere Aufgaben. Einerseits hatten die Fahrer mehr Kopffreiheit, ohne die Querschnittsfläche (und damit den Luftwiderstand) des Wagens allzu sehr zu vergrößern. Gleichzeitig erhöhte die Wölbung die Steifigkeit der Konstruktion und erlaubte die Verwendung dünnerer Bleche.
In größter Stückzahl und bis 1959 verkauft, entstand das Fiat 8VZ Coupé, das innen wie außen ganz nach Kundenwunsch gestaltet werden konnte. Dank der Leichtbaukarosserie mit vielen Aluminiumteilen wurden die 8VZ Coupés oft bei Rennen eingesetzt.
Fiat produzierte den 8V bis 1954, Zagato bot seine Coupés bis 1959 an, aber ab 1960 wurde es ruhiger um den Sportwagen … So wie bei (fast) jedem Fahrzeug folgte eine Zeit, in der der Otto Vu ein ungeliebtes, „altes Auto“ war.
Pietro Tenconi, der Besitzer unseres Titelautos, hat uns folgende traurig-komische Geschichte erzählt: Sein Vater, den sportlichen Automobilen auch nicht abgeneigt, war einst auf der Suche nach einem Fiat 1100 S, als ihn ein Freund über ein Exemplar, das zum Verkauf stünde, informierte.
Einer raschen Anreise folgte die große Enttäuschung – es war kein 1100 S, sondern nur ein alter Fiat 8V. Gnadenhalber und um nicht mit leerem Anhänger zurückfahren zu müssen, erwarb er ihn halt für wenig Geld …
Danksagung
Zu diesem Artikel haben viele Freunde beigetragen, denen hier - in alphabethischer
Reihenfolge - gedankt sei!
Tony Adriansens, der mit seinem zweibändigen Werk "Otto Vu" die Geschichte des
Otto Vu und seines "Stiefbruders" Siata 208 CS erschöpfend aufgearbeitet hat und so
erst das tiefere Interesse geweckt hat
Centro Storico Fiat, die uns mit historischen und aktuellen Bildern aus dem
Firmenarchiv versorgt haben
Bernd Heiber von der Firma Thiesen in Hamburg, der uns nicht nur mit einem
Talbot T 26 Record Cabriolet durch Hamburg chauffierte - das ist eine andere
Geschichte - sonden wo wir auch einen Fiat 8V photograhieren durften
Karl Ludvigsen, der uns mit historischen Photos aus der Sammlung "Ludvigsen
Partners/Rodolfo Mailander" unterstützt hat
Pietro Tenconi, dem Besitzer des Fiat 8V, den wir photograFahren durften
Michel Zumbrunn, der uns etliche seiner wunderbaren Aufnahmen überlassen hat