Der kleine Grade

Autor: Thomas Ulrich


Im Frühjahr 1921 stand auf der Leipziger Frühjahrsmesse ein ganz besonderes Fahrzeug, besonders deshalb, weil es so völlig anders war als die anderen auf dem Markt befindlichen Automobile.

Ausgestellt wurde dieses Automobil von Hans Grade, einem der bekanntesten deutschen Flugpioniere. Er war der Erste, der mit einem selbstgebauten Flugzeug in Deutschland geflogen ist und der Zweite, der einen Flugzeugführerschein bekam. Mit Preisgeldern, die er durch Fliegen gewann, kaufte er sich ein Gelände bei Bork, heute Borkheide, südlich von Berlin, auf dem er eine Flugschule gründete und eine Flugzeug-Manufaktur betrieb. Bereits vorher ab 1903 hatte Grade in Magdeburg eine Motorenfabrik gegründet, die erfolgreich Zweitakt-Motore für Motorräder herstellte. Aber seine große Liebe gehörte der Fliegerei.

Mit dem Ersten Weltkrieg musste er den Bau seiner Flugzeuge einstellen, sie waren der Heeresführung zu klein und zu leicht. Stattdessen musste er Flugzeuge anderer Hersteller reparieren. Während der Kriegszeit konstruierte Hans Grade sein erstes Automobil: ein ultraleichtes Gefährt – ein Cyclecar – mit einer mit stoffbespannten Karosserie. Bei diesem Zweisitzer, bei dem die Insassen hintereinander saßen, war der luftgekühlte Zweitakt-Motor zwischen Passagier und dem hinten sitzenden Fahrer. Die Höchstgeschwindigkeit wurde mit 124 km/h angegeben. Zu der Zeit eine ungeheure Geschwindigkeit für ein solches Fahrzeug. Mit dem Ende des Krieges wurde die Flugzeugherstellung in Deutschland verboten und Grade musste sich ein neues Betätigungsfeld suchen. Von seiner Motorenfabrik in Magdeburg hatte er sich zwischenzeitlich getrennt.

Das Fahrzeug, welches er auf der Leipziger Frühjahrsmesse vorstellte, war ganz anders als sein Cyclecar aus der Kriegszeit.  Der neue Grade-Kleinwagen hatte keinen Rahmen mehr, aber dafür eine selbsttragende Karosserie. Die Stahlkarosserie war bootsförmig aufgebaut und bestand im Prinzip aus zwei Teilen, dem oberen und dem unteren Teil. In der Mitte wurden die beiden Teile zusammengeschraubt und daran waren auch die einteiligen durchgehenden Kotflügel befestigt. Am oberen Teil der Karosserie war eine große Öffnung für den Passagierraum und dahinter noch eine Klappe, um das Getriebe zu erreichen.

Vorne vor dem Passagierraum war noch eine Motorhaube und auf der Beifahrerseite noch eine kleine Tür.

An der unteren Wanne gab es nur vier Öffnungen, jeweils für die Blattfedern, je zwei für die Vorder- und je zwei für die Hinterachse. Der Motor war für Grade typisch (ein Zweitakt-Motor), ein Einzylinder mit 4 Steuer PS und 12 PS Leistung. Das vordere untere Ende der Karosserie diente als Schalldämpfer für die Auspuffanlage. Dazu stand im rechten Winkel ein anderes Rad.  Für die Kraftübertragung ging Grade ganz andere Wege. Da Grade sein Auto mit so wenig Teilen wie möglich konstruiert hatte und ein normales Getriebe aus vielen Teilen besteht, wählte er ein Reibradgetriebe. Das heißt, die Kraft wurde vom Motor über eine Kardanwelle auf ein mit Motordrehzahl laufendes Rad gebracht. Dazu stand im rechten Winkel ein anderes Rad, das mit einem Hebel auf das Rad gepresst wurde und auch auf dem Rad verschoben werden konnte. Je weiter das Rad zur Mitte verschoben wurde, desto langsamer wurde das Fahrzeug. Über die Mitte verschoben konnte der Grade genauso schnell rückwärtsfahren wie vorwärts. Es war die billigste und einfachste Möglichkeit der Kraftübertragung bei einem Auto. Grade gab an, dass sein Auto nicht aus 3000 Teilen wie ein normales Auto bestand, sondern nur aus 300.

Zeitgleich mit der Ausstellung begann man in Bork mit der Serienproduktion. Auf der Leipziger Messe wurden nur wenige Autos von wenigen Herstellern ausgestellt und der Grade fand daher nicht viel Beachtung. Auf der Berliner Automobilausstellung im September 1921 wurde der Grade auch wieder ausgestellt, doch bei den vielen Neuheiten wurde er wieder kaum beachtet und die Presse schrieb auch  kaum über ihn.

Dabei hatte der Grade in Deutschland ein Alleinstellungsmerkmal. Er war das erste serienmäßige Auto in Deutschland mit einer selbsttragenden Karosserie aus Blech. Schon im September 1919 erhielt er ein Patent darauf, also Monate vor Lancia, und auch die Produktion begann schon Monate vor Lancia mit dem Lambda.

Obwohl nicht viel über den Grade geschrieben wurde, verkaufte er sich relativ gut. Schon Ende 1921 waren die Auftragsbücher voll und bald bekam der Grade einen Zweizylinder-Motor mit einem Hubraum von 808 ccm und einer Motorleistung von nun 16 PS. Die Fabrik in Bork war bald zu klein und in Berlin wurde die Carl Rüttgers Motorpflug-Fabrik erworben und dort die Motoren für den Wagen gebaut. Hans Grade versuchte auch, sein Fahrzeug im Ausland zu vermarkten. Im September 1922 erschien in der englischen Zeitung „The Light Car and Cyclecar“ ein Artikel über den Grade. Darin wurde beschrieben, dass der Grade für den Land- und Wasserbetrieb konstruiert wäre. Wegen seiner „wasserdichten“ bootsförmigen Karosserie wäre er schwimmfähig.

Beim Grade-Wagen gab es noch viel mehr, als die bisher beschriebenen Besonderheiten. Türschloss, Haubenscharnier und etliche andere Details dieses Fahrzeugs waren von einer Einfachheit oder Primitivität, dass man es schon wieder genial nennen konnte. Die Windschutzscheibe war aus Cellophan. Im Falle einer Beschädigung konnte sie in Minutenschnelle gewechselt werden. Das Klappverdeck wurde nicht von hinten nach vorne geklappt, sondern von der rechten Seite, sodass auch während der Fahrt das Verdeck mit einem Handgriff geschlossen und geöffnet werden konnte. Es gäbe da noch viel mehr, was erwähnenswert wäre, aber es soll hier nur ein Artikel werden, kein Buch.

Auch im Motorsport wurden die Grade eingesetzt. In vielen Zuverlässigkeitsfahrten, die es zu dieser Zeit gab, waren Grade-Autos mit Erfolg zu finden, doch genauso auch bei Rennen. Die vom Werk eingesetzten Wagen waren sehr auffällig, im Zebra-Muster lackiert. 1923 starteten sie unter anderem beim Avus Rennen und auch beim Stadionrennen in Berlin Charlottenburg. Bei letzterem wurde in der Presse geschrieben, dass die Grade-Rennwagen nicht die schnellsten, aber die lautesten waren.

Ab 1922 gab es die ersten Gespräche mit österreichischen Investoren, um den Grade in Österreich in Lizenz zu bauen. Auf Preislisten vom Sommer 22 wurden schon Preise für den Austro-Grade genannt. Doch erst am 1. April 1923 wurde die Austro-Grade Automobilfabrik Aktiengesellschaft Wien gegründet, um den Grade 4/16 PS in Österreich in Lizenz herzustellen. Fabrikanlagen zur Herstellung hatte die Austro-Grade AG aber noch nicht. Erst Anfang Oktober des Jahres wurde angekündigt, dass in Klosterneuburg die Staatlichen Industriewerke übernommen werden und dabei die Bundesverwaltung 35 % des Aktienkapitals übernehmen sollte. Die Austro-Grade AG, die zum Industriekonzern der Austro-Holländischen Bank gehörte, besaß auch alle Anteile der A.B.C. Karosserie Betriebsbaugesellschaft mbH. Beide Firmen sollten auf dem Gelände in Klosterneuburg ihre Produktion aufnehmen. Bei der Frühjahrs-Ausstellung in Wien wurden Grade-Wagen ausgestellt, aber die waren noch aus deutscher Produktion. Es wurde angekündigt, das der Austro-Grade bis auf ein paar Details baugleich mit dem deutschen sein sollte.

Eine der Änderungen sollte die Lenkung betreffen. Es wurde angegeben, das der Austro-Grade statt der Seilzuglenkung eine irreversible Schneckenlenkung haben sollte. Da kein Austro-Grade existiert und es auch keine Bilder von der Lenkung gibt, ist die Funktionsweise leider nicht bekannt, denn die ersten Patente einer Schneckenlenkung wurden erst Mitte der 1920er-Jahre angemeldet. Die Übernahme des Firmengeländes in Klosterneuburg zog sich Monate hin und die Austro Holländische Bank kam im Laufe des Jahres in Zahlungsschwierigkeiten; der Betrieb wurde wegen Kapitalmangels gar nicht erst aufgenommen. Im Juni 1926 wurde die Austro-Grade Automobilfabrik AG aufgelöst. Sehr wahrscheinlich wurden in Klosterneuburg, wenn überhaupt, nur sehr wenige Fahrzeuge gebaut.

In Bork wurde die Produktion weiter ausgebaut und am 4.3.1924 wurde der 1000ste Grade hergestellt. Mitte November 1923 wurde die deutsche Inflation mit der Einführung der Rentenmark beendet. Das hatte sehr große Auswirkungen auf die Wirtschaft, denn es blieben viele potentielle Käufer weg. Es gab kaum neue Bestellungen und auch der Export kam komplett zum Erliegen. Aufträge wurden abgearbeitet und ziemlich zeitgleich mit dem 1000sten Grade wurden große Teile der Belegschaft entlassen. In der Rüttgers Motorpflug Fabrik wurde der Betrieb eingestellt und im Juli kam die Firma Grade unter Geschäftsaufsicht, die aber im Dezember des Jahres wieder aufgehoben wurde.

Mit der stark verkleinerten Belegschaft wurde weiter produziert und langsam begann die Produktion zum Jahresende wieder normal zu laufen.  Doch in der Zwischenzeit gab es neuere und modernere Konstruktionen, die vor allen Dingen im Preis eine sehr große Konkurrenz waren. Opel hatte mit dem 4/12 PS das wesentlich bessere Vertriebssystem und mit der Fließbandfertigung war Grade keine Konkurrenz für Opel.  Grade versuchte noch, sein Auto weiter zu entwickeln. Für einen viersitzigen Grade wurde ein Vierzylinder-Zweitaktmotor mit einer Leistung von 24 PS entwickelt, doch das Auto kam nicht über das Prototypenstadium hinaus. Der Wagen wurde für Automobilausstellungen angekündigt und dann doch nie gezeigt. Ende 1927 kam die Produktion fast vollends zum Erliegen. Man versuchte noch eine Weile weiter zu produzieren, aber da der Grade doch schon veraltet war,  fand er kaum noch Käufer. 1930 wurde die Produktion dann vollends eingestellt. Hans Grade selber experimentierte mit automatischen Getrieben, auf die er dann auch ein Patent erhielt; er konnte es aber nicht kommerziell verwerten. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, begann er mit Schauflügen mit seinen alten Konstruktionen aus der Frühzeit der Fliegerei. Kurz nach dem Krieg verstarb Hans Grade am 22. Oktober 1946 in Bork.

Es sind nur vier überlebende Grade bekannt, von denen zwei fahrbereit sind. Insgesamt sind wohl zwischen 1.500  und 1.700 Grade-Wagen produziert worden.

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