Fausto Boscariol – ein verborgener Designmeister
Autor: Text: Branko Radovinovic Copyright Bilder: Archirvio centrale dello Stato/Stile Bertone/Fausto Boscariol
In der Welt des Automobildesigns werden immer wieder weltberühmte Namen wie Giorgetto Giugiaro oder Marcello Gandini genannt.
Aber wer ist Fausto Boscariol – ein Name, den nur noch intime Kenner der Automobildesignszene kennen?
Branko Radovinovic:
Wie sind Sie Designer geworden?
Fausto Boscariol:
Ich wurde 1947 in Italien geboren und später zogen wir nach Frankreich.
Ich habe keine so guten Erinnerungen an meine Schulzeit, denn ich war ein sehr unruhiges und lebhaftes Kind. Dementsprechend waren meine Noten auch nicht besonders gut – was meinen Eltern gar nicht gefiel. Eine Lösung musste her. Die fand ich in Form einer Ausbildung zum Karosseriebauer. Diese absolvierte ich an der „College de la Carrosserie Automobile“ in Paris, die insgesamt vier Jahre dauerte. Und diese Wahl erwies sich als richtig. Dank dieses Berufs konnte ich meine überschüssige Energie loswerden und gleichzeitig etwas Konstruktives und Schönes schaffen.
Nach meinem Abschluss fand ich eine Stelle bei Peugeot, wo ich von 1966–1967 tätig war. Aber was mich wie magisch anzog, war das Centro Style Bertone. Anstatt zu warten, handelte ich rasch. Denn wenn man etwas wirklich will, kann man vieles selbst beeinflussen. Hierbei half mir die Tatsache, dass ich mit dem von mir entworfenen blauen Modell eines Coupés den 2. Platz beim Wettbewerb „Grifo d’Oro“ gewonnen hatte. So sprach ich bei der Preisverleihung in Turin einen Bertone-Mitarbeiter direkt an und sagte ihm, dass ich gerne für Bertone arbeiten würde. Leider war die Antwort zunächst ein Nein, da sie nur italienisches Personal einstellen. Als ich dann sagte, dass ich in Italien geboren bin, aber in Frank-reich lebe, hieß es: „Ah, in diesem Fall können Sie sofort bei uns anfangen!“ Interessant, nicht? Damals war die Welt noch anders als heute ...
Bei Bertone begann ich als erstes in der Prototyp-Abteilung zu arbeiten, wo die Autodesigns gebaut wurden, die Geschichte machten. Dank meiner Fähigkeiten als Karosseriebauer war ich bald in der Lage, Mitarbeiter in der Kunst der Blechbearbeitung auszubilden. Damit ging für mich ein erster Traum in Erfüllung.
Was war Ihr Eindruck von Bertone?
Sehr professionell und gut organisiert! Man hat sofort gespürt, dass in diesem Unternehmen eine positive Atmosphäre herrscht. Dies ist vor allem Nuccio Bertone zu verdanken. Ein Gentleman in jeder Hinsicht. Für ihn stand der Respekt vor anderen immer an erster Stelle. Das sollte mich auch für den Rest meines Lebens prägen. Was mich immer wieder erstaunt, ist zum Beispiel, dass Bertone, wenn er zu den Designern ging, immer höflich an die Tür klopfte und fragte, ob er kurz unterbrechen kann. Unglaublich, oder? Er
hat dies auch mit seinem Kleidungsstil gezeigt. Ich habe Nuccio Bertone immer nur im Anzug gesehen. Dieser Stil prägte auch das Bild, das er von seinem Unternehmen haben wollte, ein Unternehmen, dessen Werte auf Respekt, Diskretion und Vertrauen beruhen.
Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Marcello Gandini?
Da ich in der Prototypabteilung arbeitete, war mein Vorgesetzter ein sehr junger, aber dennoch respekteinflößender Mensch – Marcello Gandini. Zu dieser Zeit war er noch sehr jung und völlig unbekannt. Aber man merkte sofort, dass er etwas Besonderes war. Er war nie ein Mann der großen Worte – im Gegenteil, eher von Natur aus sehr schüchtern und doch klar in seiner Kommunikation. Wenn Gandini uns einen Auftrag erteilte und diesen später begutachtete, brauchten wir Karosseriebauer uns nur auf seinen Gesichtsausdruck zu konzentrieren und wussten dann genau, ob wir die Form des Wagens getroffen hatten oder nicht. Es waren keine Worte nötig – sein Blick genügte. In meinen Augen ist Gandini ein Genie, wie er später mit seinen revolutionären Entwürfen bewies.
Wie sind sie in das Designteam gekommen?
Ich war immer fasziniert von den Entwürfen und Konstruktionszeichnungen von Designern wie Giugiaro oder Gandini. Also schlich ich mich in ihre Ateliers, wenn sie nicht da waren, und begann, ihre Entwürfe zu kopieren.
Eines Tages, als ich ein paar fertige Entwürfe hatte, nahm ich meinen Mut zusammen und zeigte sie Gandini. Er warf einen Blick darauf und sagte: „Sie sehen sehr gut aus, du kannst mit genau solchen Illustrationen weitermachen.“ Von einem Tag auf den anderen wurde ich Teil des vierköpfigen Designteams, bestehend aus Marcello Gandini, Eugenio Pagliano, Arrigo Gallizio und mir. Stellen Sie sich das vor – heute wäre das unmöglich. Und dieses kleine Viererteam war für alle Entwürfe von Bertone verantwortlich.
Wie war die Zusammenarbeit zwischen Nuccio und seinen Designern?
Bei Bertone stand das Design Bertone immer an erster Stelle. Die Technik hatte sich ihr unterzuordnen. Damals waren Designer auch technisch begabt und mussten daher viel entsprechendes Verständnis mitbringen. Denn sie mussten abschätzen können, ob ein Entwurf technisch machbar war oder nicht. Da das Design im Mittelpunkt des Geschehens stand, hatte Gandini sehr große Freiheiten. Bertone schenkte seinen Designern volles Vertrauen – obwohl dies oft ein großes Risiko darstellte. Denn man wusste nie im Voraus, ob ein Entwurf ein Erfolg werden würde.
Aber auch hier kommt Bertones einmaliger Instinkt ins Spiel. Und auf diesen Instinkt konnte man sich immer verlassen. Dieser untrügliche Instinkt veranlasste Bertone auch schon früher, d. h. im Jahr 1965 dazu, einen bis dahin völlig unbekannten … Gandini – und dazu noch ohne nennenswerten Leistungsausweis – als neuen Chefdesigner einzustellen. Nicht Bertones Kopf hat entschieden, sondern seine Nase!
Wie haben Bertone und Gandini zusammengearbeitet?
Sehr gut! Es gab sehr wenig Kritik von Bertone an Gandini, weil er mit Gandini ein Talent in seiner Firma hatte, der die Marke Bertone weltweit zum Leuchten brachte. Ich erinnere mich aber an ein Beispiel im Zusammenhang mit dem legendären Miura, dass Bertone die Wölbung des seitlichen Fensterglases der Miura-Maquette nicht mochte und sie in Abwesenheit von Gandini wieder geradebiegen ließ. Letztendlich hat sich Gandini aber durchgesetzt. Deshalb hat der Miura in der Produktionsversion gebogene Fenster.
Wie haben sie mit Gandini zusammengearbeitet?
Meine Aufgabe war es, die technischen Zeichnungen von Gandini in dynamische, emotionsgeladene Illustrationen für die Journalisten zu verwandeln. Gandini mochte diese Art von Arbeit nicht, weil sie zu viel Zeit in Anspruch nahm und aus technischer Sicht nicht notwendig war. Für mich bot diese Illusion die Möglichkeit, meine technischen mit meinen künstlerischen Fähigkeiten zu kombinieren und das in völliger Freiheit. Ich schuf verschiedene Illustrationen von Bertone-Showcars, wie dem Lancia Stratos, dem BMW Garmisch oder dem Lamborghini Countach. Die Illustrationen waren in ihrer Art einzigartig und kombinierten wilde Farben mit technisch ausgefeilten Karosseriedesigns. Ich begann immer zuerst mit dem Auto und fügte in einem zweiten Schritt den Hintergrund hinzu. Natürlich habe ich meine Arbeiten signiert. Aber Bertone sorgte dafür, dass die Unterschrift auf den Pressefotos, die später von ihnen angefertigt wurden, nicht sichtbar war. Denn der Urheber der Illustrationen sollte immer Bertone sein. Der Grund für diesen Schritt war, dass es Bertone missfiel, dass Giugiaro – Gandinis Vorgänger bei Bertone – seine Illustrationen immer signierte. Im Laufe der Jahre wurde Giugiaro immer berühmter. Bertone lief Gefahr, in den Hintergrund gedrängt zu werden. Das führte zu der Entscheidung, dass die Designer nach der Ära Giugiaro ihre Arbeiten nicht mehr signieren durften – zumindest durften die Unterschriften nicht auf Pressefotos zu sehen sein …
Worauf sind Sie besonders stolz, wenn Sie an Ihre Zeit bei Bertone denken?
Das ist die Tatsache, dass wir Teil eines unglaublich kreativen Designteams waren. Ohne es zu wissen, haben wir mit unseren extremen Showcars, wie beispielsweise die zahlreichen Lamborghini-Designs, und dem Stil der Illustration das Image der Marke Bertone mitgeprägt. Zu dieser Zeit schienen wir etwas Alltägliches zu sein. Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass es etwas ganz Besonderes war, das sich nie wiederholen wird – ein Geschenk für mein Leben.
Was geschah nach Ihrer Phase mit Bertone?
Ab 1974 war ich selbstständig. Da ich gerade den Bau eines Hauses für meine Familie beendet hatte, wollte ich dort meinen neuen Lebensmittelpunkt haben.
Aber da es in der Gegend – anders als in Turin – keine Automobilindustrie gab, erweiterte sich mein Tätigkeitsfeld automatisch auf andere Bereiche des Industriedesigns, sei es der öffentliche Nahverkehr, die Möbel- oder die Reinigungsindustrie. Ich wurde auch im Bereich der Lehre tätig. Mit meiner lebhaften Persönlichkeit konnte ich mich in allen möglichen Bereichen austoben. Die größte Befriedigung habe ich immer dann erfahren, wenn ich mit Hilfe von Design eine ganzheitliche Lösung für ein Problem gefunden habe, die das Praktische mit dem Schönen verbindet und dem Benutzer des Produkts das Leben angenehmer macht. Das war schon immer meine Leidenschaft. Dafür bezahlt zu werden, ist das Tüpfelchen auf dem i.
Wenn ich zurückblicke, bin ich stolz auf das, was ich erreicht habe. Und darauf, dass ich mein Wissen an meine Schüler weitergeben und ihnen Werte vermitteln konnte. Werte wie Respekt, Vertrauen oder Pünktlichkeit. Die habe ich selbst von Bertone mitbekommen. Sie haben mich mein Leben lang geprägt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sie im Leben eines jeden Designers zentral sind – neben dem Talent für Design natürlich!
Vielen Dank für dieses sehr interessante Interview, Herr Boscariol!