Mercedes und die Targa Florio 1924
Autor: Text & Photos: Mercedes-Benz Classic
Gesamtsieg und dreifacher Klassensieg für Mercedes Kompressor-Rennwagen in rotem Lack
Vier topmoderne Rennwagen, ein optimal vorbereitetes Team und eine besondere Lackierung: Die Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG) startet am 27. April 1924 zum dritten Mal beim berühmten Straßenrennen Targa Florio auf Sizilien. Die bisherige Bilanz kann sich sehen lassen: Bei der ersten Teilnahme 1921 holt Max Sailer mit einem Mercedes 28/95 PS Platz 2 der Gesamtwertung. 1922 folgt der erste Gesamtsieg von Giulio Masetti mit einem privat eingesetzten Mercedes Grand-Prix-Rennwagen aus dem Jahr 1914. Ein weiterer Sieg könnte nun 1924 mit dem 2-Liter-Rennwagen mit Kompressormotor gelingen. Einen Kniff haben sich die Mercedes-Strategen ausgedacht: Die Rennwagen für die Targa Florio 1924 sind nicht in der typischen deutschen Rennfarbe Weiß lackiert, sondern in kraftvollem Rot. Das ist zwar ungewöhnlich, aber nicht untersagt. Rot ist seit 1907 das Kennzeichen italienischer Rennwagen, Weiß als deutsche Rennfarbe geht bis auf das Gordon-Bennett-Rennen im Jahr 1900 zurück. Die taktische Überlegung hinter der besonderen Lackierung: Weil die Zuschauer bei schneller Fahrt von fern vor allem die Farbe der Rennwagen erkennen, werden selbst übereifrige italienische Fans ein rotes Auto kaum behindern. Das zeigt sich bereits 1922 bei dem wegen der italienischen Nationalität des Fahrers rot lackierten und privat eingesetzten Mercedes-Rennwagen von Masetti.
Akribische Vorbereitung
Die Stuttgarter Marke überlässt möglichst wenig dem Zufall. Daher veranlasst Oberingenieur Max Sailer ausgiebige Trainingsfahrten vor dem Rennen. Er ist 1924 verantwortlich für den Mercedes-Einsatz in der Targa Florio. Zwei dafür vorgesehene Rennwagen und ein Begleitfahrzeug reisen im Januar 1924 nach Sizilien. Dort wird im Februar und März 1924 ausgiebig für das Rennen geprobt. Der Aufwand lohnt sich, unter anderem wird die Höchstgeschwindigkeit der Fahrzeuge optimal auf die 108 Kilometer lange Runde mit ihrem markanten Höhenprofil abgestimmt: Mehr als 120 km/h lassen die Routenführung und die Qualität der Bergstraßen nicht zu – entsprechend wählen die Techniker die Übersetzung.
Üben und immer wieder üben muss auch die Mercedes-Crew. So gelingt es, den Boxenstopp mit Tanken, Ölstandprüfung und Reifenwechsel von 3 Minuten auf 2,5 Minuten zu verkürzen – wertvolle Sekunden im harten Wettbewerb. Das sind damals vorzügliche Werte. Heute wechseln die Mechaniker des Mercedes-AMG Petronas Formula One Teams vier Räder in zwei bis drei Sekunden. Eine Besonderheit: Die Mercedes-Box liegt 1924 nicht wie üblich im Start-Ziel-Bereich, sondern bei Kilometer 54, exakt nach einer halben Runde. Dafür entscheidet sich Max Sailer, der dieses Depot persönlich leitet. Hier fließen seine Erfahrungen aus den beiden vorherigen Rennteilnahmen ein.
Im April 1924 richtet sich die Aufmerksamkeit der Motorsportwelt auf Sizilien. Bereits zum 15. Mal seit 1906 trägt Vincenzo Florio das Straßenrennen um die legendäre Plakette aus. Es ist ein Wettbewerb mit europäischer Strahlkraft. Das Mercedes-Team bricht bereits Anfang April in Stuttgart auf. Denn die Hinfahrt findet auf eigener Achse statt. Die für das Rennen vorgesehenen Rennwagen, ein baugleiches Ersatzfahrzeug und zwei Begleitfahrzeuge fahren in drei Tagen von Stuttgart über Zürich nach Mailand. Von dort schickt das Team quasi als Beiprodukt den Trainingswagen, einen Mercedes 115 PS Grand-Prix-Rennwagen von 1914, ins Bergrennen von Merluzza bei Rom. Giovanni Bonmartini gewinnt das Rennen vor Domenico Antonelli ebenfalls auf einem Mercedes Grand-Prix-Rennwagen von 1914.
In Mailand trennt sich das Team. Die 2-Liter-Rennwagen fahren zur Schonung der Fahrzeuge die 150 Kilometer nach Genua und werden dort mit Ziel Palermo verschifft. Die weiteren Teamfahrzeuge mit Ersatzteilen und Mechanikern rollen rund 800 Kilometer weiter bis Neapel und setzen dort über nach Palermo.
Ein Jahrhundertsieg
Die Targa Florio ist mehr als ein Wettbewerb: Sie ist ein großes automobiles Fest. Ganz Palermo steht im Bann des Motorsports. In der Nacht vor dem Start beherrschen die Fans die Straßen. Heiß wird auf Sizilien diskutiert: Wer sind die talentiertesten und mutigsten Fahrer? Welcher europäische Hersteller hat die schnellste und robusteste Konstruktion? Der Start erfolgt morgens ab 7 Uhr. Insgesamt 37 Rennwagen nehmen teil. Sie gehen im Abstand von je zwei Minuten auf die Strecke.
Vier Runden über Bergpassagen und durch enge Dorfstraßen liegen vor den Teams, jede ist herausfordernde 108 Kilometer lang. Das ergibt 432 Kilometer, die Distanz der Targa Florio. Für die meisten Mannschaften ist danach noch nicht Schluss. Denn zum zweiten Mal nach 1922 wird der ebenfalls von Vincenzo Florio gestiftete Pokal der Coppa Florio zusammen mit der Targa gefahren. Für diese Wertung ist zusätzlich eine fünfte Runde zu absolvieren – insgesamt also 540 Kilometer. Für Mercedes gehen Christian Werner (Startnummer 10, Beifahrer Karl Sailer – der Neffe Max Sailers), Christian Lautenschlager (Startnummer 22, Beifahrer Wilhelm Traub) und Alfred Neubauer (Startnummer 23, Beifahrer Ernst Hemminger) ins Rennen. Um 7:18 Uhr wird Werner als zehnter Fahrer auf die Strecke geschickt, Neubauer folgt um 7:44 Uhr und Lautenschlager um 8:02 Uhr.
Gebannt warten die Zuschauer auf die Zwischenergebnisse der Zeitnahme – durch den verteilten Start ist die Position der einzelnen Wagen im Feld für das Publikum nicht direkt zu erkennen. Der markante Gesang des Kompressormotors ist weithin zu hören, als der erste Mercedes-Fahrer seine erste Runde vollendet: 1 Stunde, 36 Minuten und 37 Sekunden benötigt Werner. Er absolviert die erste Runde bewusst vorsichtig und liegt zunächst auf Position 5. Altmeister Lautenschlager, der sein letztes großes Rennen für Mercedes bestreitet, folgt mit 1:44:06 Stunden auf Position 14. Nach 1:45:30 Stunden passiert Neubauer die Ziellinie als 18. Fahrer im unverändert 37 Wagen umfassenden Feld. Bis zum Zieleinlauf der Coppa Florio wird sich die Teilnehmerzahl durch technische Defekte und Unfälle auf 16 Fahrzeuge verringert haben.
An der Reihenfolge Werner – Lautenschlager – Neubauer im Team aus Stuttgart-Untertürkheim wird sich bis zum Ende des strapaziösen Marathons nichts mehr ändern. Aber die Mercedes-Fahrer verbessern alle drei ihre Platzierung Runde um Runde. Werner gewinnt am Ende die Targa Florio über 432 Kilometer in 6 Stunden, 32 Minuten und 37,4 Sekunden mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 66,01 km/h. Er sichert sich außerdem die Wertung der Coppa Florio über 540 Kilometer in 8 Stunden, 17 Minuten und 1,4 Sekunden. Dazu kommt die schnellste Runde in 1 Stunde, 35 Minuten. Das entspricht einem Durchschnittstempo von 68,22 km/h. Christian Lautenschlager kommt in der Targa Florio auf Platz 11 der Gesamtwertung (7:07:18 Stunden) und in der Coppa Florio auf Platz 9 (9:00:16 Stunden). Die entsprechenden Platzierungen von Alfred Neubauer sind Platz 16 in der Targa Florio (7:33:19 Stunden) und Platz 13 in der Coppa Florio (9:30:29 Stunden).
Strapazen für Fahrer und Fahrzeuge
Die Strecke der Targa Florio verändert sich im Lauf der Jahrzehnte bis zum letzten offiziellen Rennen im Jahr 1977 immer wieder, insbesondere wird zwischen dem kleinen (72 Kilometer), dem mittleren (108 Kilometer) und dem großen Rundkurs (146 Kilometer) gewählt. Die Charakteristik der von Bergstraßen geprägten Route ist jedoch immer ähnlich. 1924 schreibt die „Allgemeine Automobil-Zeitung“ aus Berlin über die „reifenmordende […] Madonie-Rundstrecke mit ihren 1.562 Kurven und fortwährenden Schotterungen“. Wer die Zahl hochrechnet, kommt auf mehr als 6.000 Kurven bei der Targa Florio und sogar 7.810 davon bei der Coppa Florio – eine immense Strapaze für die Fahrer.
In späteren Jahrzehnten wird schneller gefahren als 1924. Doch selbst die viele Hundert PS starken Rennsportprototypen der 1970er-Jahre kommen über einen Rundenschnitt von viel mehr als 120 km/h nicht hinaus. Ein paar Hundert Meter geradeaus geht es in Ortspassagen mit Namen wie Cerda, Collesano oder Cefalù sowie unten auf den flotten Kilometern am Meer entlang. Hier kann am schnellsten gefahren werden.
Nie gelingt es insbesondere in der Frühzeit der Targa Florio, die engen Landstraßen komplett zu sperren. Risiken können hinter jeder Kurve lauern. Vor allem während der Trainingsfahrten treffen die Helden der Landstraße hinter unübersichtlichen Kurven beispielsweise auf Eselskarren, Kühe, Schafe oder Hunde. Fast 40 Jahre nach seiner Erfindung ist das Automobil im April 1924 auf den abgelegenen Pisten der Mittelmeerinsel noch immer weitgehend fremd. Den Zuschauern am Wegesrand fällt es schwer, das Tempo der Wagen von 100 km/h und mehr richtig einzuschätzen – auch wenn die gewohnte Stille vom warnenden Motorenlärm zerrissen wird.
Zudem: 1924 sind die Straßen in der Regel unbefestigt. Im Staub hinter einem Konkurrenten erkennen die Fahrer Hindernisse oft erst im letzten Augenblick. Das macht es noch schwieriger, dem Streckenverlauf mit Kurven aller möglichen Radien präzise zu folgen. Obendrein haben die Teilnehmer mit dem Fahren selbst im Wortsinn alle Hände voll zu tun: Die Bremsen dieser Ära sind schwergängig und lassen bei zu starker Beanspruchung nach. Die Gänge können sie nicht einfach durchreißen, denn mangels Synchronisation verlangen die Getriebe nach Zwischengas und Zwischenkuppeln. Bis sich Bremskraftverstärker oder Servolenkung ausbreiten, werden noch Jahrzehnte vergehen.
Staub kriecht unter die Brillengläser, und Fahrtwind verfängt sich in den Rennanzügen. Schlaglöcher schütteln Maschine und Besatzung unentwegt durch. Die sizilianische Sonne und dazu Motor und Auspuff nah am Fahrer strahlen unbarmherzig Hitze ins offene Cockpit. Und das alles über mehr als sechs Stunden, unterbrochen nur durch die Boxenstopp-Minuten bei den helfenden Monteuren am Straßenrand. Rennfahrer von heute, die historische Rennwagen flott bewegen, zollen den heroischen Leistungen dieser furchtlosen Pioniere des Automobilsports höchsten Respekt.
Gefeierte Sizilien-Sieger
Zahlreiche Ehrungen gibt es 1924 für Fahrer, Mannschaft und Marke: Sieger Christian Werner gewinnt die Plakette (Targa) und den Pokal (Coppa) des Vincenzo Florio, er wird zudem mit der Coppa Villa Igiea für die schnellste Runde ausgezeichnet. Die Mercedes-Mannschaft erhält für ihren dreifachen Klassensieg bei den Rennwagen mit 1.501 bis 2.000 Kubikzentimeter Hubraum die Coppa Termini für das beste Werksteam. Hinzu kommen weitere Preise und Medaillen.
Die Rückfahrt vollzieht sich wie die Hinfahrt: Anfang Mai rollt die Mannschaft auf eigener Achse zurück nach Stuttgart. Schon auf dem Weg in Richtung Norden und erst recht in der Heimat werden die Sizilien-Sieger für ihre glänzenden Erfolge gefeiert: Die Targa Florio 1924 lässt den Mercedes-Stern besonders hell strahlen.