Österreich fährt Rad
Autor: Matthias Marschik und Edgar Schütz
150 Jahre Fahrradgeschichte in Bildern
Am Anfang stand die Laufmaschine des Mannheimers Karl Freiherr von Drais (1785–1851). Solche Geräte, die mit hintereinander angeordneten Rädern das Auslangen fanden und vom „Reiter“ selbst durch wechselseitiges Abstoßen der Beine bewegt wurden, sind auch in Österreich gefahren und gebaut worden: Die „K. K. Hofackerwerkzeug- und Maschinenfabrik Anton Burg und Sohn“ kupferte 1818 die Erfindung des Badischen Forstmeisters ab.
Ein knappes halbes Jahrhundert später kamen Pedale ans Vorderrad, was dazu führte, dass die Laufmaschine zum Vélocipède wurde, auf dem der Pedaleur während der Fahrt des Bodens enthoben war. In Paris als Vélocipèdes salonfähig gemacht, fassten sie bald auch in Österreich Fuß: 1869 gründete Friedrich Maurer den „Wiener Vélocipède-Club“, und Carl Lenz begann mit der Fabrikation solcher Fahrmaschinen. Auch in Salzburg vermeldete ein Vélocipèdes-Verfertiger den Betriebsstart und bot gleich auch Kurse an. Prompt wurden in Linz, Salzburg und Wien Fahrverbote auf Trottoirs und in engen Gassen verhängt, in Graz wurde es gar handgreiflich: Die städtische Civilwache habe „einen widerspenstigen Velozipedisten sammt seinem Instrumente zur Sicherheitsbehörde gestellt“, heißt es in einem Zeitungsbericht. Schon früh wohnt dem Freiheit und Unabhängigkeit versprechenden Radeln etwas Anarchisches inne, wird daher von Obrigkeit und Publikum misstrauisch beäugt und als reglementierungsbedürftig eingestuft.
Die eigentliche Geburtsstunde des Fahrrads schlug in England, wo das Vélocipède ab 1870 in leichterer Bauweise aus Stahl und mit Tangentialspeichen für schnellere und weitere Fahrten fit gemacht wurde. Der direkte Antrieb auf das immer größere Vorderrad sollte sich zwar als technologische Sackgasse erweisen, doch schon einige Jahre später folgte mit dem „Safety“ die bahnbrechende Neuerung: die Übersetzung der Pedalkraft mittels Getriebe und Kette auf das gleich große Hinterrad. Kugellager, Pneumatics und Diamantrahmen besorgten den Rest. Sozioökonomisch gesehen war es die industrielle Fertigung, die den Boom auslöste: Sie sorgte für sinkende Preise und dafür, dass sich um 1900 der Wandel vom elitären Sportgerät zum damals schnellsten Individualverkehrsmittel für breite Bevölkerungsschichten vollzog. Das Fahrrad wurde zum Wirtschaftsfaktor.
„Auto der Armen“ Arbeiterschaft und Frauen sattelten auf, organisierten sich in Vereinen, die sich zunehmend nach Stand, Beruf und ideologischer Ausrichtung differenzierten – zuerst in den Städten, bald jedoch ebenso in den Bezirken und Gemeinden im ganzen Land. Die Radfahrverbände und ihre Protagonisten wurden aber auch zu Wegbereitern der Motorisierung: Von hier flossen Mittel in die Verbesserung der Straßeninfrastruktur, Spitzenfunktionäre wechselten alsbald auf die schnellere Seite und mit ihnen ihr Lobbying. So kam es, dass, obwohl das Fahrrad noch lange – bis in die 1950er-Jahre – die Alltagsmobilität schaukelte, dieses bereits in der Zwischenkriegszeit als „Auto der Armen“ bezeichnet wurde. Das Heilsversprechen des Autobesitzes war nicht nur bei den Nazis Programm. Das Fahrrad galt als überholt, das Auto als fortschrittlich, das motorisierte Zweirad als Zwischenschritt. Dies findet sich auch im Motivwandel für Radwege wieder. Waren die ersten Fahrradwege – gesandete Randstreifen – angelegt worden, um für die Radfahrer eine glatte Verkehrsfläche zu bieten, wurden nun Radwege gefordert, um sie als Hindernis für die Autos von der Fahrbahn zu entfernen.
Tiefpunkt in den 1960er- und 1970er-Jahren Der Tiefpunkt der Radlerei kann wohl in der Zeit des Wiederaufbaus und der beginnenden Vollmotorisierung in den 1960er- und 1970er-Jahren festgemacht werden. Das Fahrrad fristete sein Dasein fast nur noch als Spielzeug, als Klapprad im Kofferraum für die letzte Meile, im Sport. Doch wenn auch marginalisiert, verschwunden war es nie. Es blieb die unscheinbare Bewegungsreserve im Keller, vielleicht auch nur noch als Reminiszenz an frühere und Kindheitstage.
Ölkrise und Anti-Zwentendorf-Bewegung läuteten Ende der 1970er-Jahre die Wende ein. Der Protest gegen Energieverschwendung und gegen den fahrlässigen Umgang mit Natur und Ressourcen brachte das Fahrrad zurück ins Spiel. Parallel sorgte die Fitness-Bewegung für eine Aufwertung der aktiven Mobilität im Dienst von Volksgesundheit und Tourismus, entlang der Flüsse und hinauf auf die Berge.
In den 1980er-Jahren machte man sich ernsthaft an die Errichtung von Radinfrastruktur in den Städten, sodass etwa in Graz der Anteil der von der Bevölkerung mit dem Rad zurückgelegten Wege zwischen 1973 und 2021 von 7 % auf über 20 % gesteigert werden konnte. Die postulierte Verkehrswende, in der das Fahrrad eine wesentliche Rolle spielt, ist angesichts von Klimakrise und Dekarbonisierungsauftrag sowie der Forderung von mehr Grün und mehr Aufenthaltsqualität auf Straßen und Plätzen heute weitgehend verkehrspolitischer Konsens.
E-Bike und Lastenrad Zumindest zwei Trends haben die Fahrradszene ins neue Jahrtausend begleitet: E-Bike und Lastenrad. Letzteres folgte einer Renaissance des Anhängers, Ersteres drängte mit der Weiterentwicklung von Elektromotoren und Akkus auf den Markt. Wobei sich in der Frage der Nutzung elektrischen Rückenwindes meinungsmäßig Gräben auftun: „Motor bin ich selbst“, lautet das Credo der Puristen, während die liberale Seite einräumt, dass der elektrische Rückenwind Sinn ergibt und zusätzlich Menschen aufs Rad bringt. Freilich hatte auch der Hilfsmotor seine Tradition: Schon in der Zwischenkriegszeit erlebten mit Kraftstoff betriebene Zusatzaggregate einen Höhenflug. Kritischer gesehen werden reine E-Bikes, die oft Geschwindigkeiten weit jenseits der erlaubten 25 km/h erreichen und nur noch wenig mit Fahrrädern zu tun haben, außer des statt einer Nummerntafel angebrachten süffisanten Hinweisschildes: „Ich bin ein Fahrrad“. Diese Blüten sorgen gemeinsam mit zahlreichen anderen fahrbaren Untersatz-Kreationen – vom E-Scooter bis zum E-Skateboard – einerseits für ein buntes Bild in unseren Städten, andererseits aber auch für Konfliktpotenzial, zumal der Ausbau der von ihnen mit der beanspruchten Radinfrastruktur nicht Schritt hält.
Ob vorübergehende Mode oder gekommen, um zu bleiben: Diese Neuerungen werden sich noch bewähren müssen. Und das Fahrrad? Quasi aus der Zeit gefallen, bleibt es seiner Rolle als wenig spektakuläres, aber zuverlässiges, einfach zu wartendes Fort- und Bewegungsmittel treu. Wie vor 200 Jahren steht es für das Versprechen, Raum und Umwelt auf eigene, individuelle Art zu erfahren, was mitunter anstrengend, jedenfalls aber selbst verdient und nachhaltig ist.
Im Lauf seiner langen Geschichte hat sich das Fahrrad, wie es seiner Gestalt und Funktion gebührt, ganz sachte in den Alltag eingeschrieben. Nicht durch grenzziehende Autobahnen oder Schienenstränge, nicht durch gebieterische Bauwerke wie Bahnhöfe oder Flughäfen, nicht durch Lärm und Abgase und nicht durch massive Landschafts- und Ortsbildveränderungen. Das Fahrrad stand meist im Hintergrund und stand zur Verfügung, wenn es gebraucht wurde. Diese stete Präsenz wollen wir in diesem Buch nachzeichnen.