Stelvio, no Stelvio
Autor: Christian Spatt
Christian Spatt testete für Austro Classic die neue Moto Guzzi Stelvio im Rahmen eines Giro d’Italia, der dann wetterbedingt eher zu einer Tour de France wurde.
Als wir für Austro Classic 2012 die Stelvio erstmals fuhren, war die Stelvio des Jahres 2012 schon ein ausgereiftes, wunderbar zu fahrendes Motorrad, das leider ein wenig im Schatten der Großen unterwegs war.
Danach wurde es ein wenig ruhiger um die große Straßenenduro aus dem Hause Moto Guzzi, das Hauptaugenmerk lag auf den kleineren Modellen wie die V7 und die V9, Weiterentwicklungen der California. Ein erstes Aufflackern in Richtung der großen Reisemaschinen oder Straßenenduros, wie man auch so schön sagt, gab es dann 2020 mit der neuen V85TT.
Und jetzt 2024, ist sie also da, die neue Stelvio. Die Reiseenduro aus Mandello ist jetzt endgültig erwachsen. Wir konnten die neue Stelvio bereits ausgiebig testen, insgesamt durften wir eine Woche die Alpen bereisen.
Wenn man schon ein Motorrad namens Stelvio bewegen darf, was liegt dann näher, als sich am Giro d’Italia zu orientieren. Die Alpenklassiker in Italien sollten es werden, als Krönung der Stelvio, oder wie die Südtiroler sagen, das Stilfser Joch selbst.
Um es vorwegzunehmen, die Schlagzeile der letzten Wochen rund um den Monatswechsel Mai/Juni ließen auch die größten Ambitionen an der Realität zerschellen. Im Grunde mussten wir aber froh sein, überhaupt sowas wie eine Motorradrunde zustande zu bringen, sieht man sich beispielsweise die Katastrophenmeldungen aus Süddeutschland an. Auch der Verlauf des Giro 2024 (des echten!) war kein gutes Omen. Aus der Hoffnung, dass der Stelvio befahrbar sein würde, weil ja auch der Giro drüber geführt würde, wurde bald eine der weniger glorreichen Geschichten des Giro, wurde aus dem Stelvio der Umbrail Pass, aus dem Umbrail Pass eine verkürzte Etappe, mit einem wenig pittoresken Start an einer Tankstelle irgendwo mitten im Vintschgau.
So kam es, dass aus dem Giro 2024 die Tour de France 2024 wurde. An dieser Stelle beginnen jetzt die positiven Nachrichten. Auch der französische Teil der Alpen bietet alles, was es braucht, um ein Motorrad dieser Klasse und Ausprägung auf Herz und Nieren zu testen. Wir durften von Autobahn bis hin zu kleinsten Alpenstraßen, teilweise sogar mit Schotter, alles erfahren, konnten kleine unbekanntere Pässe, aber auch die großen Klassiker der Tour erkunden.
Begonnen hat die Ausfahrt in Feldkirch. (Genaugenommen hat die Ausfahrt am Autoreisezug Terminal Wien Hauptbahnhof begonnen, aber dieser Teil war wohl der unspannendste in Sachen Motorradtest. Das aber nur nebenbei.)
Tag 1 begann also am Vormittag am Verladeterminal Feldkirch, wo wir unsere Motorräder in Empfang nehmen durften.
Eine andere Geschichte ist der Quantensprung an Qualität durch die neuen Nachtzuggarnituren im Vergleich zu den bisherigen. Hier sprechen wir aus eigener kürzlicher Erfahrung. Das wäre aber durchaus einen Artikel in der Austro Classic wert … Terminal Feldkirch. Wir sollten beim Thema bleiben. Wir hatten für unsere Tour zwei wesentliche Planungselemente: Den Grobplan und das Regenradar. Tagesetappe 1: Trocken durch die Schweiz bis in den Bereich Charmonix/Mont Blanc. Sowohl Grobplan als auch Regenradar gaben ihren Sanktus. Der schnellste Weg in die Sonne führte quer nach Westen und beinhaltete bereits einige Highlights: Zuerst einmal konnten wir den Tempomaten testen. Gerade Schweizer Tempolimits sind ein gutes Argument für Tempomaten. Bei Motorrädern ist dieser gerade bei „Überbrückungsetappen“ ein wunderbares Helferlein, im echten Leben müssen immer wieder auch Kilometer gefressen werden, um die schönsten Motorradstrecken zu erreichen. 100 km oder mehr, immer in gleicher Gashandposition, am Motorrad noch einmal unangenehmer und muskulär ermüdender als im Auto mit dem Gasfuß. Einerseits wollte die Strecke bis Glarus, andererseits dann auch das Rhonetal zwischen Brig und Martigny schnell überwunden werden, also Autobahn. Und da machte sich dieser bezahlt.
Leicht zu bedienen, mit zwei Fingern steuerbar, einzig mit dem Aufblendlicht muss man aufpassen, vor allem mit dickeren Handschuhen kommt man leicht am Schalter an, wenn man den Tempomaten bedient.
Aber auch am ersten Tag gab es bereits ausreichend Kurven, um die Stelvio kennen und schätzen zu lernen. Klausenpass und dann rauf nach Andermatt, und dann weiter Richtung Furka. Der Furkapass war allerdings noch nicht offen, daher Motorrad auf den Zug und durch den Tunnel bis Obergoms. Noch einmal wurde es kurvig an dem Tag, von Martigny die direkte Strecke nach Charmonix und weiter zum ersten Etappenziel Saint-Gervais-les-Baines.
Tag 2 sollte der Tag der Fahrmodi werden. Rain – Tour – Road – Sport. Sagte das Regenradar. Es sollte recht behalten. Aus Saint Gervais raus ging es noch, in Megeve durfte der Regenmodus übernehmen. Das Wesentlichste, was über den Modus zu sagen ist: Man merkt ihn nicht! Das ist gut, sie fährt sich im Regen so wie man es im Trockenen auch erwarten würde. Natürlich ist man vorsichtiger, langsamer und hat weniger Sicht. Aber es ist trotzdem kein anderes Motorrad im Regen.
Auf dem Weg nach Roselend erfolgte trotzdem der wetterbedingte Abbruch. Wir machten uns auf den Weg nach Süden – Albertville, Grenoble, Sonnenschein, Road-Modus. Und so kam es, dass das erste Highlight auf uns wartete. Alpe d’Huez. Die Königin der Serpentinen! 21 an der Zahl! Ausblicke in die französischen Alpen, die ihresgleichen suchen. Und ein Testgelände für die Stelvio, wie es besser nicht sein könnte. Modus: Road und Sport, Kurven: flott! Pausen zum Fotografieren! Das ist Alpe d’Huez mit der Stelvio!
Aber merke: Wer in Alpe d’Huez oben ist, muss auch wieder runter. Hier hatte die Streckenplanung eine kleine Überraschung für uns: die alte Militärstraße. Modus Tour! Schlechter Asphalt! Einsetzender Regen! Nicht unanstrengend, aber gut machbar.
Bevor wir unser Tagesziel erreichten, gab es noch ein weiteres Tageshighlight: Col de Lautaret. Die Vorstufe zum Col du Galibier, der aber leider noch geschlossen war. Und schließlich Briançon!
Tag 3 Kurven auf dem Weg nach Süden! Kurven über Kurven! Enge Kurven, einige Pässe, schlechte Straßen bis hin zu Schotter!
Das Wetter war an diesem Tag kein Faktor, maximal Schnee an der Seite über den Col de Izoard. An diesem Tag ging es also wirklich einmal darum, die Stelvio flott zu bewegen. Natürlich im Rahmen der StVO, aber Bergstraßen sind hier ein guter Gradmesser.
Col de Izoard, Col de Vars, Col de la Cayolle, Col de Valberg, Col de Saint-Leger, Col de Pierre Basse, Col de Maure, Col de Pontis, keiner brachte die Stelvio in Verlegenheit. Kurve für Kurve wurde abgespult, das Motorrad wie auf Schienen. Selbst die Schotterpiste vom Col de Pontis war problemlos fahrbar, der Modus „Offroad“ stellte die Stelvio auf „Unauffällig“.
Tag 4, Königsetappe Nur zwei Tage zuvor noch nicht möglich, konnten wir an diesem Tag das Dach der Tour erklimmen. Den Col du Galibier.
Ebenfalls ein Tag des gesammelten „Best of“, unter Weglassung des Regens allerdings. Den Anfang machten lange Kurven, von Briançon bis zu Lautaret. Danach wurden die Kurven enger, als wir die Südseite des Galibier erklommen. Die Stelvio ließ sich weder von der Höhe (2500 m) noch von den Temperaturen beeindrucken, im Gegenteil! Selbst in der Ausstattung ohne Griffheizung waren Temperaturen nahe dem Nullpunkt (vernünftige Handschuhe vorausgesetzt) kein großes Problem. Offensichtlich ist der Griffschutz in einer Art gebaut, die tatsächlich ausreichend vor kaltem Luftstrom schützt und auch keinen Kältesee durch Unterdruck erzeugt.
Das war aber erst der Anfang der Tour, die Abfahrt auf der Nordseite hielt neben grandiosen Ausblicken, die man auf der Stelvio auch genießen konnte (soll heißen, der Untersatz war weiterhin pflegeleicht), auch weiterhin Kurven, Kurven und Kurven bereit. Es folgten der Col du Telegraph, eine Kaffeepause in Saint-Michel-de-Maurienne, der Ort Saint-Jean-de Maurienne, unter Kennern bekannt als Herkunft der berühmten Opinel-Taschenmesser, bevor wir uns die engen Kurven zum Col de la Confrérie emporschwangen. Und wenn wir hier von eng schreiben, dann meinen wir wirklich eng. Aber auch hier, Schaltung, Quickshift, alles lief wie am Schnürchen. Die Stelvio tat, wie ihr geheißen.
Und trotzdem war das noch lange nicht alles. Nach schwungvoller Fahrt auf den eleganten Kurven auf der Hochebene ging es auf den Col de la Croix de Fer. Ein Gipfel, in dessen Namen bereits sehr viel Wahrheit steckt. Ungewollt vermutlich! Der Name des Gipfels bezieht sich vermutlich eher auf die Region, Eisengewinnung und -verarbeitung (Opinel, nur wenige Kilometer Luftlinie), doch für uns bedeutete es primär Schotterpiste bis zum Gipfel. Auch hier zeigte sich, die Stelvio tut, was man von ihr verlangt. Der Modus „Offroad“ tut aber das seine dazu.
Aber auch das war noch lange nicht das Ende des Tages. Als nächstes wartete auf uns der Col de la Madelaine, ebenso ein Klassiker wie die Pässe zuvor. Der Madelaine war aber wieder Standard, Modus Road, keine ungewöhnlichen Herausforderungen. Aber landschaftlich, oh là là!
Zum Abschluss der Liste der Pässe des Tages wartete noch der Kleine Sankt Bernhard, eine DER historischen Alpenüberquerungen schlechthin. Bereits in der Antike überquerten Menschen die Alpen über diesen Pass. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass Hannibals Heer im 2. Punischen Krieg diese Route nutzte, auch wenn man heute inzwischen eher vom Col de la Traversette oder vom Col de Clapier (beide weiter südlich) ausgeht. Aber das nur als Funfact nebenbei. Inzwischen ist der Kleine Sankt Bernhard aber natürlich im Modus „Road“ zu queren, Modus „Offroad“ ist seit einem Jahrhundert hier Geschichte.
Tag 5: Back to the roots Auch wenn wir mit dem Wetter Glück hatten, in den Alpen nördlich des Mont Blanc herrschten immer noch schlechte Wetterbedingungen, der Traum vom Stelvio war damit endgültig ausgeträumt (am Ende sollte es noch einen Monat dauern, bis der Pass befahrbar war …), es musste also eine Alternative ins Programm. Diese war leicht gefunden, der Tag 5 brachte uns also am Saum der Alpen nördlich von Turin und Mailand bis an den Comer See. Kundige werden wissen, das Hause Moto Guzzi ist in Mandello del Lario beheimatet, einer kleinen Industriestadt am Ostufer des Comer See.
Tag 6: Heimreise Modus „Rain“. Ab der Auffahrt zum Splügenpass bis ans Verladeterminal in Feldkirch sollte sich das nicht mehr ändern. Auch hier konnte das Wetter das Geschehen auf der Straße nicht stören. Kurve um Kurve ging es nach oben, selbst im Hochgebirge bei entsprechenden Temperaturen bewegten wir uns trotz ansprechendem Tempo wie auf Schienen.
Auf der Schweizer Seite übernahm dann der Tempomat auf der Autobahn das Kommando. Das Wetter war keine Einladung, noch ein paar Kilometer anzuhängen, strömender Regen sollte uns bis Feldkirch begleiten.
Ein kleines Fazit: Die Gene sind eindeutig, die Stelvio ist eine Guzzi, wie man sie erwartet, nichts ist zur Unkenntlichkeit verwässert, es wurde nur alles auf den aktuellen Stand gebracht. Wir haben den Sound, das typische metallische Vibrieren, selbst wenn es deutlich reduziert auftritt (Langstrecken-tauglich bedeutet immerhin, dass man nicht nach 200 km mehr geschüttelt als gerührt vom Sitz fällt), die Vorteile des Kardanantriebs.
Das was heute als Stelvio 2024 vor uns steht, hat keine allzu lange direkte Abstammungslinie, die „Urstelvio“ gibt es seit 2012, es finden sich allerdings die Merkmale der Familie Moto Guzzi, die deutlich weiter zurückreichen.
Der Motor ist aus der V100 Mandello übernommen, trägt dort den Namen „Compact Block“, jedoch mit kleinen Adaptionen bei Getriebe und Übersetzungen, da ja der Einsatzbereich ein anderer ist. Insgesamt ist der Motor bereits im unteren Drehzahlbereich voll da, die Leistungsentfaltung ist harmonisch und es ist nicht notwendig, hochtourig zu fahren, um den Vortrieb auch zu spüren. Die Elastizität, die der „kleineren“ V85TT deutlich überlegen ist, macht es gerade auf Alpenstraßen sehr angenehm, da man nicht permanent am Schalten ist. Hier kommt noch zusätzlich der Quickshift zum Tragen, der zusätzlich noch die Zeit ohne Vortrieb beim Schalten reduziert. Durch das Ride-by-Wire-System ist der Quickshift sehr harmonisch, die Schaltung und Drehzahlanpassung erfolgt ohne spürbares Ruckeln und macht schnell abfolgende Schaltmanöver sehr angenehm.
Man muss aber auch dazusagen, dass dieser Motor für die V100 neu konstruiert wurde; es ist immerhin der erste wassergekühlte Motor, den Moto Guzzi gebaut hat. Nichtsdestotrotz findet man das Motorenkonzept mit dem querstehenden 90°-Zweizylinder seit 1967 bei Moto Guzzi, und eben auch hier.
Sprit-technisch haben wir uns bei etwa 350 km eingependelt, allerdings war der Stadtanteil niedrig, während der Überlandanteil doch recht kurvig und bergauf-bergab war. Lt. Werksangaben sollten ca. 400 km möglich sein, das geht maximal bei hohem Anteil von Tempomat und auf der Autobahn in gemütlichem Tempo. 400 km entsprächen bei einem 18+3 l-Tank etwa 5 l/100 km, was nach unserer Erfahrung ein guter Durchschnitt im Segment der Reiseenduros ist.
Die technischen Daten entsprechen in etwa jenen der Stelvio 1200 aus 2012, im Detail gibt es allerdings sehr wohl Unterschiede, wie beispielsweise die etwas niedrigere Sitzposition, das merkbar niedrigere Gewicht (ca. 35 kg fahrfertig), und die etwas höhere Leistung bei etwas geringerer Kubatur (115 PS bei 1042 cm³ VS 105 PS bei 1151 cm³). Der Radstand liegt bei in der Klasse üblichen 1520 mm (die Stelvio 1200 hatte 1535 mm, die aktuelle GS steht bei 1518 mm).
Deutlich merkbar ist die Entwicklung der Elektronik und der Ergonomie an Lenker und Display. Hier kommen 12 Jahre kontinuierlicher Entwicklung, die man aus dem Konzern von Aprilia übernehmen konnte, und auch die Entwicklung der Elektronik, die das Fahren sicherer und bequemer machen soll, zum Tragen.
Zusatzausstattung wie Griffheizung ist vollständig via Menüsteuerung, einhändig an der linken Hand (damit theoretisch auch während der Fahrt, wovon wir aber aus Sicherheitsgründen abraten), bedienbar. Selbiges gilt auch für den Windschild, der sich elektrisch ein- und ausfahren lässt und somit um 70 mm höhenverstellbar ist.
Nach 2.500 Kilometern, 30.000 Höhenmetern und gefühlt 10.000 Kurven lässt sich sagen, hier haben wir wirklich ein Prachtstück vor uns, das man nicht mehr hergeben will.