Aus dem Vollen gefräst
Autor: Dorian Rätzke (OCC)
Die Legende mit dem zu schmalen Autoreisezug nach Sylt kennt jeder.
Und jeder hat schon einmal über die Notwendigkeit von Peilstäben am Heck geschmunzelt. Der "Helmut Kohl S-Klasse" ist das alles egal. Heute lächelt sie erhaben über die, die damals gelächelt haben. Und schon vor 30 Jahren repräsentierte sie die Herrenfahrer des ausklingenden Jahrtausends mit einem einzigen Anspruch: Der Allerbeste zu sein. Egal wie groß, egal wie schwer, koste es was es wolle
Ohne Rotstift und Sparzwang
Optisch und akustisch umringt von Schwerindustrie läuft das große Auto im Standgas. Aber wir bekommen das quasi gar nicht mit. Der Motor von Otto sollte im Entwurf von Bruno nur Mittel zum Zweck sein, bemerken durfte man ihn nicht. Eigentlich sollte der Käufer eines neuen W 140 überhaupt nichts von dem bemerken, was um ihn herum passierte. Die West German Upperclass manifestierte sich im Topmodell von Mercedes-Benz, und zwar im letzten, was noch ohne Rotstift und Sparzwang auf die vier Räder gestellt wurde. Die S-Klasse zwischen 1991 und 1998 war und gilt noch immer als die hemmungsloseste Eskalation der automobilen Dimensionen. Am liebsten mit dem V12, damals als direkte Antwort auf den ersten deutschen Serienzwölfzylinder im BMW 750i.
Bei einer direkten Gegenüberstellung mit dem Dickschiff ist es fast unmöglich, den nicht zu lieben. Seine unfassbaren Dimensionen sind trotzdem irgendwie stimmig. Der Anspruch von Mercedes-Benz, das beste Auto der Welt zu bauen, stand fett in den Auftragsbüchern der Ingenieure. Und das sieht und fühlt man auch 30 Jahre später noch in jeder Sicke, jeder Kante und jeder Schraube.
Ein würdiger Nachfolger des W 126
Bruno Sacco sollte einen würdigen Nachfolger für die Baureihe 126 gestalten, und er legte schon 1981 damit los. Als wenn er damals schon geahnt hätte, was in dem avisierten Jahrzehnt auf der Welt alles passieren wird, damit so ein Panzer nötig wird. Der Budget-Topf war groß, Sparsamkeit stand anfangs nicht auf der Agenda. Der Motor sollte auf keinen Fall quer eingebaut werden. Das neue Auto sollte S-Klasse typisch das gesamte Arsenal an technischen Neuigkeiten implantiert bekommen und gleichzeitig seine Insassen effizient von der Außenwelt abschotten. 1986 fielen die endgültigen Entscheidungen zu den vorgelegten Designentwürfen, 1988 wurden die Patente angemeldet und 1989 kam der nagelneue Lexus LS 400.
Das war hart. Das stehende 5-Mark-Stück auf dem laufenden Lexus Motor ist zwar ein Fake, aber der Wagen war trotzdem eine ernsthafte Konkurrenz. Daimler-Benz nahm noch kurz vor dem Serienstart diverse Verbesserungen am Entwurf vor und sprengte nun doch irgendein Kostenlimit. Chefentwickler Wolfgang Peter musste seinen Hut nehmen. Doch dann wurde gebaut, was gebaut werden musste.
Zu breit für den Autozug nach Sylt
Ein über fünf Meter langes, über 1,90 Meter breites und über zwei Tonnen schweres Bollwerk erblickte 1991 eine unruhige Welt. Aus dem Vollen gefräst, um die Folgen der deutschen Wiedervereinigung zu meistern. Und ja, von Außenspiegel zu Außenspiegel maß die Limousine epische 2,16 Meter und war tatsächlich zu breit für den Autozug nach Sylt. Anfangs mussten die 140er in Richtung Nordsee auf den LKW Waggons mitreisen, später ließen sich die Spiegel anklappen und es passte so gerade eben.
In seinen ersten Jahren punktete das Dickschiff mit allerhand weiteren Überraschungen, über die man staunen oder schmunzeln konnte. Erstmalig wurden die Steuergeräte über einen CAN Bus vernetzt und kommunizierten nun wie Computer miteinander. Segen und Fluch – bei Störungen auf dem Bus macht das Auto komische Sachen. Eine echte Einparkhilfe konnte ab 1995 optional bestellt werden. Wer das doof fand, blieb bei den kleinen Peilstäben, die beim Einlegen des Rückwärtsgangs aus den hinteren Kotflügeln herausfuhren. Damals der Brüller, heute geliebtes Extra. Das Elektronische Stabilitätsprogramm ESP und die elektronische Dämpferkontrolle ADS kamen ebenfalls 1995 auf die Liste.
Der letzte Ingenieurswagen
Als die schweren Türen zufallen, ist es still in dem großen Auto. Das Vermächtnis vom damaligen Vorstandschef Werner Niefers gilt heute als der letzte "Ingenieurswagen" und sollte Menschen zwischen 1,60 und 1,90 Metern Größe auf allen Plätzen genügen. Das tut er. Das Raumgefühl auf dem mit Holz umbauten Gestühl ist beeindruckend, die Stille fast erdrückend. So leise ist es nur in den akustischen Testlaboren von HiFi Herstellern.
Mike Morgante legt die Fahrstufe ein (ach, der Motor läuft schon?) und setzt das Schiff in Bewegung. Der 320er ist mit dem Reihensechser wahrhaftig nicht untermotorisiert und flutscht mit seinem auch heute noch guten CW Wert von 0,3 unter dem Westwind durch. Die Außenwelt bleibt die Außenwelt und wird durch die doppelwandigen Fenster angezeigt wie ein nachvertonter Film. Ein Luxus ohne Lexus, der heute vor allem zeitgeschichtlich begeistert, denn aktuelle Autos sind auch leise. Und zumindest außen nicht viel kleiner als die Galeere mit den Sacco-Brettern an den Flanken.
Zeitgeschichte zum selbst erfahren
Aber neue Autos verströmen nicht diese wundervolle Überheblichkeit, dieses Egalsein von Meinungen, diese Erhabenheit gegenüber allen anderen. Das konnte nach der Helmut Kohl S-Klasse keiner mehr so gut. Bei den Fähnchenhändlern sind sie für weniger als 2000 Taler zu bekommen, allerdings muss man sich dann auf böse Überraschungen einstellen. Es ist eine S-Klasse. Sie ist niemals dafür gebaut worden, im Alter ein billiger Alltagswagen zu sein. Aber sie guckt auf den meisten Parkplätzen auch heute noch vorn und hinten ein bisschen raus. Herrlich.
Mercedes-Benz S320
Baujahr: 1995
Motor: Sechszylinder Reihe
Hubraum: 3199 ccm
Leistung: 170 KW (231 PS) bei 5600/min
Max. Drehmoment: 315 Nm bei 3750/min
Getriebe: Fünfgang Automat
Antrieb: Hinterräder
Länge/Breite/Höhe: 5113/1910/1485mm
Leergewicht: 2080 kg
Beschleunigung 0-100 km/h: 8,9s
Top Speed: 225 km/h