„Saschas“ Motorrad
Autor: Text & Photos: Walter Blasi
Die Wanderer des Alexander Graf Kolowrat
Die Herren Johann Baptist Winklhofer und Richard Adolf Jaenicke, die als Hersteller von motorisierten Fahrrädern begonnen hatten, waren die Schöpfer eines der berühmtesten deutschen Motorräder seiner Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die erste 1905 auf dem Markt erschienene Wanderer erregte zunächst in der Fachpresse kein sonderliches Interesse. 1913 wartete die Firma mit drei Modellen auf: einer 150er, einer 250er und einer 500er mit Zweizylindermotor. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges blieb nur die 250er in Serienfertigung, während die Zweizylinderversion in leicht abgeänderter Form für das deutsche Heer vorgesehen war. Ab 1915 lieferte Wanderer tausende von Fahrrädern und Motorrädern („Heeresmodell 4 PS“) an das deutsche Heer.
Einer, der die 500er Wanderer (knapp 500 cm³ bei 65 mm Bohrung und 76 mm Hub, Höchstdrehzahl 2000 U/min) mit der Nummer 255012 beim Wiener Importeur Karl Schug erwarb, war Alexander Graf Kolowrat. Der „Sascha“ genannte Sohn des Vizepräsidenten des Österreichischen Automobil Clubs, Leopold Graf Kolowrat, kam am 29. Jänner 1886 in New York zur Welt. Aufgewachsen ist er jedoch in Böhmen und in Wien. Sein Vater hatte ihm offenbar seine Sport- und Automobilbegeisterung vererbt. Mit zehn oder elf Jahren zeigte ihm sein Vater einen Wagen ohne Pferde (einen Benz) und „von diesem Augenblick an war ich dem Benzinteufel verfallen“, wie es der junge Kolowrat ausdrückte. Er bedrängte seinen Vater, ein solches Fahr-zeug zu kaufen, der jedoch wegen der Feuergefährlichkeit gegen das Benzin war. Leopold Kolowrat erwarb schließlich ein Elektromobil. Sein Sohn konnte sich dafür allerdings nicht begeistern und „ich sah mit großem Neid den damals so geräuschvollen Benzinwagen nach, die uns alle davonfuhren“.
Schließlich kam doch ein Benzinwagen, eine de Dion-Voiturette, ins Haus. Der Vater stellte die Bedingung, dass sich „Sascha“ die Technik des Fahrzeuges aneignen und für ihn als Chauffeur zur Verfügung stehen müsse. Als Lehrer fungierte kein Geringerer als der Konstrukteur und Rennfahrer Otto Hieronimus, „der für mich ungefähr gleich nach dem Herrgott kam“. Wie der junge Kolowrat mitteilte, hätte man gerne dieses Fahrzeug auf das Land mitgenommen, aber „die Unvollkommenheit der Konstruktion band uns gewissermaßen an die Industrie der Großstadt“. 1902 kaufte sich die Familie dann das erste Modell von Gräf (später Gräf & Stift); auch dieses Gefährt war (noch) nicht frei von Tücken.
Um 1900 landete „Sascha“ beim Motorrad. Seine erste Maschine war eine „Helios“ (in Bregenz hergestellt), mit der man „vorteilshafterweise nur abfallendes Terrain“ benutzte. Bereits das nächste Motorrad war eine Wanderer mit 1 ¾ PS. Ein Defekt an der Maschine brachte ihn in Kontakt mit einem Mechaniker namens Vaclav Laurin. Hier wurde der Grundstein für die langjährige Verbindung zur Marke Laurin & Klement gelegt. Kolowrat sollte sich sowohl als Motorrad- als auch Automobilrennfahrer (Semmering-rennen und Alpenfahrten) betätigen. Kaum verwunderlich, dass er 1910 auch die Pilotenprüfung ablegte. „Er zog es vor, die Welt durch die Autobrillen zu betrachten, als durch das Monokel“, urteilten Zeitgenossen über ihn. Vermutlich deshalb nannten ihn seine Standesgenossen einen „ungeratenen Grafen“. Auch abseits der Rennpisten befleißigte er sich, wie ein Zeitgenosse bemerkte, „besten Grand-Prix-Stils mit Polizeiwidrigkeit, ein Asphalt-Bolschewik der Verkehrsordnung“.
Während des Ersten Weltkrieges musste auch Kolowrat des Kaisers Rock tragen. Auf Grund des zunehmenden Gummimangels wurde 1915 ein schwunghafter Handel mit gestohlenen ärarischen Reifen festgestellt. Erst mit der Betrauung der Nachforschungen durch Kolowrat kamen die Untersuchungen richtig in Schwung, als das Kommando der k.u.k. 3. Armee den Oberleutnant der Reserve Alexander Graf Kolowrat zur Recherchierung der Diebstähle nach Wien entsandte. Seine Ermittlungen sollten sich als äußerst erfolgreich herausstellen. Bei Hausdurchsuchungen in 17 Wiener Firmen wurden größere und kleinere Lager gestohlener Reifen sichergestellt. Bald war klar, dass alle Militärkommanden von diesen Diebstählen betroffen waren und man wurde in vielen Orten der Monarchie fündig. Gegen Ende des Krieges gründete er dann die „Sascha Filmindustrie-Aktiengesellschaft“ mit Sitz in Wien, die seinen Namen noch viele Jahre durch die Kinos der Kulturwelt tragen sollte. Bei Austro-Daimler zeichnete er nach dem Krieg für die Herstellung eines 1100-cm³-Rennwagens (Type „Sascha“) verantwortlich. Leider erlag Kolowrat viel zu früh im 42. Lebensjahr einem Krebsleiden.
Doch kehren wir zur Wanderer zurück. Was Kolowrat wohl veranlasst haben mag, sich neben seiner Leidenschaft für Laurin & Klement diese Maschine zuzulegen, war nicht zu eruieren. Vermutlich werden ihn Leistung und Qualität der Motorräder der Marke Wanderer (die auch Automobile herstellte) überzeugt haben. Nicht umsonst hatte die deutsche Armee in ihrer Zweiradaustattung auf Wanderer (und NSU) zurückgegriffen. Im Duplikat des Typenscheins bestätigte der Importeur Karl Schug am 15. Jänner 1919, dass es sich bei dem Motorrad um das im Jahre 1910 typengenehmigte Grundmodell handle. Der Motorradfachmann Dr. Helmut Krakowiczer vermerkte als Baujahr das Jahr 1911 (so steht es in der Verkaufsbestätigung an den letzten Erwerber). Wann hatte Kolowrat nun dieses Fahrzeug erworben? Das lässt sich an Hand der Eintragungen nicht sicher feststellen. Im Jänner 1919, also zu jenem Zeitpunkt, als Schug die Bestätigung abgab? Gut möglich! Mit dem Motorrad wurde vom heutigen Besitzer auch das damalige amtliche Kennzeichen AX 476 erworben, das im September 1919 „gestrichen“ wurde. Dabei könnte es sich um jenes Kennzeichen gehandelt haben, das Kolowrat zugeteilt wurde. Vom Zahlenstock her mit der „römischen zehn“ könnte es durchaus für 1919 passen, denn bei der Nummernvergabe bei Automobilen in Wien war man im November 1914 bereits bei „römisch sieben“ angelangt. 1924 wurde bei den Motorrädern bereits „römisch zwanzig“ ausgegeben (im Typenschein ist nämlich ein Kennzeichen A XX-763 vermerkt – allerdings gibt es keinen Hinweis auf den Besitzer). Österreich war ein Motorradland, was den Anstieg innerhalb von fünf Jahren auf „XX“ erklären würde.
Eindeutig fest steht hingegen, dass die Wanderer am 30. März 1919 von einem gewissen Rudolf Panek erworben wurde. Am 8. September 1950 kaufte dann Dr. Max Reisch die Maschine. Reisch war damals kein Unbekannter. Der 1912 in Kufstein geborene Reiseschriftsteller, Geograf, Journalist und Orientfachmann war eine vielseitige Persönlichkeit. Reisch hatte mehrere Auslandsfahrten mit Puch-Motorrädern unternommen bzw. war mit einem Automobil, nämlich einem Steyr 100, rund um die Welt gefahren. Seine wohl berühmteste Fahrt war mit einer 250er Puch von Wien nach Indien im Jahre 1933. Sein Beifahrer war kein geringerer als der später berühmt gewordene Forscher Herbert Tichy, der sich für seine Forschungsfahrten ebenfalls einer 250er Puch anvertraute. Forschungsreisen wollte Reisch mit der Wanderer wohl kaum unternehmen. Der Kauf des im guten Originalzustand befindlichen Motorrads wird wohl eher der Sammelleidenschaft zugerechnet werden müssen.
Irgendwann hat sich Reisch jedoch von der Maschine getrennt. Jedenfalls landete das Motorrad bei der Firma Wiesenthal (Mercedes-Vertretung). Dort erwarb sie der jetzige Besitzer, Herr Johann Rath, aus der Konkursmasse, und zwar am 12. Dezember 1974 um öS 20.300,-. Viel Geld, wenn man bedenkt, dass man damals eine Vorkriegs-Puch um einen Betrag weit unter öS 1000,- erwerben konnte, für die man heute phantastische Summen hinlegen muss. Die Schätzung der Wanderer wurde jedenfalls von Dr. Helmut Krakowizcer vorgenommen, der allerdings einen Käufer in Deutschland an der Leine hatte. Gott sei Dank wurde aus diesem Geschäft nichts und die Maschine blieb in Österreich. Reisch dürfte in der Zwischenzeit den Verkauf des Motorrades bereut haben, denn er meldete sich bei dem neuen Eigentümer und wollte die Wanderer zurückkaufen. Aber Herr Rath dachte nicht daran, sich von dem Prachtstück zu trennen. Leider ließ er sich überreden, das Motorrad restaurieren zu lassen, was bei dem guten Originalzustand nicht notwendig gewesen wäre. Wie er meint, hätte er die Wanderer im Originalzustand belassen sollen.
Betrachten wir die Technik der Wanderer einmal näher. Da wäre zunächst der Keilriemenantrieb, der zur damaligen Zeit gegenüber dem Kettenantrieb noch so manche Vorteile hatte. Mit ihm konnte sanfter gefahren und er musste nicht geschmiert werden. Ein Nachteil waren die ungenügende Haltbarkeit und das Durchrutschen bei schlechtem Wetter. Wanderer löste letzteres Problem, indem die vordere Keilriemenscheibe exzentrisch gelagert wurde und während der Fahrt verstellt werden konnte. Auch die Kolowrat’sche Wanderer verfügt über einen Kickstarter (also nicht erst die Militär-Wanderer), womit das Problem des Aufbockens vor dem Start gelöst wurde. Motorräder mussten nämlich damals wie ein Fahrrad mit Pedalen und Kette zum Hinterrad angetreten oder angeschoben werden. Bei der Wanderer treibt der Kickstarter über eine kleine Kette das Hinterrad an, das wiederum über den Keilriemen die Kurbelwelle in Gang setzt.
Den fünfeckigen Tank teilen sich Benzin und Öl. Vor Antritt der Fahrt mussten sowohl der Benzin- als auch der Ölhahn geöffnet werden, sonst drohte ein kapitaler Motorschaden. Die Motorradtechnik dieser Ära verlangte eben viel Aufmerksamkeit und Fingerspitzengefühl. Es waren diverse Hebel zu bedienen, die heute bei modernen Motorrädern völlig unbekannt sind. Am Lenker befinden sich sechs Hebel, auf dem Tank vier, die alle während der Fahrt bedient werden wollten. Der Startvorgang sah folgendermaßen aus: Benzin- und Ölhahn öffnen, Schwimmerkammer mittels Tupfer fluten, die Gas- und Lufthebel justieren, die Zündung auf „spät“ stellen, die Spannung des Keilriemens überprüfen und dann kann der Motor mit Hilfe des Dekompressionshebels angetreten werden. In der Literatur ist die Rede davon, dass der Motor meistens beim zweiten Kick ansprang. Ein Zuviel an Öl im Motor wurde verbrannt oder einfach auf die Straße entsorgt. Nun mussten Gas- und Lufthebel in die richtige Stellung gebracht werden, sonst setzte der Motor gleich wieder aus.
Die Wanderer ist mit zwei Ölpumpen ausgestattet. Am Motor befindet sich die automatische Ölpumpe, die das Öl vom Tank zur Kurbelwelle befördert, die es ihrerseits an die zu schmierenden Stellen schleuderte. Mit der am Tank befindlichen Handölpumpe konnte der Fahrer bei stärkerer Belastung oder auf Steigungen in den Schmiervorgang eingreifen. Hartes Klopfen im Motor signalisierte ihm einen Ölmangel. Weißlich-bläuliche Dämpfe deuteten hingegen auf eine zu reichliche Schmierung hin.
Das Motorrad verfügt in der Hinterradnabe über ein Zweiganggetriebe. Die Schaltung sowie der Leerlaufhebel (der einer Kupplung entspricht) sind am Tank angebracht. Das Anfahren muss sehr gewöhnungsbedürftig gewesen sein: Da der Leerlaufhebel umgelegt werden musste, bedeutete das ein einhändiges Losfahren. In der Literatur wird dazu festgestellt: Man geht am breiten Lenker in Position und schlingert um Haltung bemüht los. Das geringe Fahrzeuggewicht von 90 kg hat sich dabei sicherlich als Vorteil erwiesen. Sobald der kurz übersetzte erste Gang ausgedreht ist, müssen Gas und Luft zurückgenommen und es muss mit der linken Hand der zweite Gang eingelegt werden.
Sowohl Vorderrad als auch Hinterrad sind gefedert, was auf den damaligen Straßen für einen gewissen Federungskomfort sorgte. Steigungen wurden mit kaum mehr als Schrittgeschwindigkeit bewältigt und ein eventuell vorhandener Beifahrer musste jederzeit absprungbereit sein, um im Bedarfsfalle schiebend zu unterstützen. Wenn man eine Steigung erklimmt, muss diese zwangsläufig irgendwann auch abwärts gefahren werden. Gefällestrecken konnten tückisch sein, besonders wenn die Straße nass und glitschig war. Bremse (nur hinten) und die schmale Reifendimension sowie Kurven trugen das Ihre dazu bei. Der Motor dagegen entschädigte für die Unannehmlichkeiten mit einem weichen und vibrationsarmen Lauf. Die bescheiden ausgeführten Kühlrippen konnten den langsam drehenden, leistungsarmen Motor problemlos kühlen.
Der jetzige Besitzer, obwohl geübter Motorradfahrer, ist die Maschine nie gefahren. Nur einmal hat er sich ohne laufenden Motor ein Stück „bergab“ rollen lassen und da war ihm sofort klar, dass es für ihn einfach zu gefährlich wäre, das Fahrzeug mit Motor in Betrieb zu nehmen. Bedienung und Fahrverhalten der Wanderer stammen schließlich aus einer anderen Zweiradwelt, die allerdings konstruktiv durchaus auf der Höhe ihrer Zeit waren. Ob „Sascha“ Kolowrat die Bedenken seines Nachbesitzers verstanden hätte?