111 Jahre Schuco
Autor: Martin Winterle
Zu Besuch bei Dr. Schuco – einem Spezialisten für Schucomanitis, einer schwer therapierbaren Suchtkrankheit.
Er diagnostiziert eindeutig das unvergleichliche Gefühl der alten Blechformen auf den Handflächen als Krankheitserreger. Erst viel zu spät, nachdem die Sucht bereits vollständig von ihm Besitz ergriffen hatte, benutzte er Handschuhe.
Ich habe als guter Freund von Dr. Schuco die seltene Chance genutzt, Fragen stellen und Bilder dieser einmaligen Sammlung machen zu dürfen. Meine wichtigste Frage war – warum gerade Schuco? Die Antwort war genau so einfach, wie logisch: „Weil es sich um altes Blech handelt, welches Charakter und Geschichte hat!“
Zwischenzeitlich umfasst seine gigantische Sammlung alles, was den Namen Schuco trägt. Von seltenen Originalen der 1930er-Jahre bis zu den neuesten Kreationen ist alles vertreten. Die Entwicklungsphasen von Formen, Verarbeitungstechniken und Materialien einzelner Baumuster von der Gründerzeit bis zu topaktuellen Neuauflagen kann mein Freund anhand seiner Sammlung dokumentieren und verständlich erklären. Selbst originale Verkaufsdisplays und seltenste Werbemodelle nennt er sein Eigen. Von den kleinsten, nur 1:90 im Maßstab großen Piccolos (historische wie aktuelle) bis zu großen Plastikfahrzeugen in 1:16. Wer diese Sammlung sehen darf und (mehr oder weniger qualifizierte) Fragen stellen kann, auf die es auch erschöpfende Antworten gibt, hat eines verstanden: Schucomanitis ist die angenehmste Sucht der Welt!
111 Jahre Schuco
Gegründet wurde Schuco 1912 in Nürnberg vom Werkzeugmacher Heinrich Müller und dem Kaufmann Heinrich Schreyer als Schreyer und Co. Daraus entstand die Kurzform Schuco. Müller war vorher als Mustermacher bei der bedeutenden Firma Bing beschäftigt und entwickelte bereits zu dieser Zeit eigene Spielzeugideen. Nach dem Ausscheiden von Heinrich Schreyer folgte 1919 der Textilkaufmann Adolf Kahn als neuer Kompagnon. Dieser musste 1939 wegen seiner jüdischen Abstammung nach Amerika emigrieren, blieb aber zeitlebens geschäftlich mit Heinrich Müller verbunden und betrieb das wichtige Schuco Amerika-Geschäft von New York aus. Das erste der langen Reihe von Automodellen aus Blech mit den sonderbarsten Funktionen und Spielmöglichkeiten war 1936 das Patent-Wendeauto 1001. Seit demselben Jahr, also seit 87 Jahren, wird das an den Mercedes Silberpfeil erinnernde Rennauto Studio 1050 in immer neuen Serien erzeugt. Aus der Zeit vor dem Weltkrieg stammen auch das Fernlenkauto 3000, Akustico 2002 und die legendären Examico 4001. Mit diesen Modellen begann nach Kriegsende erneut die Produktion. Ein einmaliges Zusammenspiel von langlebiger Feinmechanik, genialen Ideen in wunderbaren Blechkleidern.
Die wichtigsten Modelle klassischer Schucos
Patent Wendeauto 1001 von 1936 bis 1952,
Mercedes Rennauto Studio Baukasten 1050 von 1936 bis heute (das Original natürlich nur bis zur Insolvenz 1976),
Fernlenkauto 3000 von 1938 bis 1960,
Freilaufrenner 1250 von 1938 bis 1952,
Examico 4001 BMW 328 von 1936 bis 1959,
Examico II 4004 von 1957 bis 1968,
Constructions Lastwagen von 1949 bis 1967,
Acustico 2002 von 1939 bis 1959,
Garagen-Auto 1750 von 1938 bis 1960,
Tacho Examico 4002 von 1951 bis 1956,
Kommando-Auto 2000 von 1937 bis 1951,
Radio-Auto 4012 von 1952 bis 1964,
Ingenico Elektro 5311 von 1952 bis 1960,
Grand-Prix-Racer 1070 von 1954 bis 1966,
Mirako-Car erste Serie 1001 von 1951 bis 1966,
Fex 1111 von 1951 bis 1965,
Magico 2008 von 1951 bis 1964/65,
Combinato 4003 von 1954 bis 1966,
Elektro Control Car 5308 von 1958 bis 1969,
Go-Kart 1055 von 1961 bis 1968,
Dalli 1011 von 1961 bis 1968,
Phänomenal Mercedes 190SL 5503, 1955 bis 1969,
VW Käfer Fernlenkauto 3000 von 1967 bis 1974,
Alarm-Car 5340 von 1961 bis 1966,
Texi 5735 von 1960 bis 1964,
Hydrocar 5720, Micro Racer von 1954 bis ca. 1972
Viele der klassischen Modelle und Namen wurden und werden seit den 1980er-Jahren immer wieder neu aufgelegt. Es ist also möglich, wertvolle Originale und/oder preiswertere Replicas auch parallel zu sammeln. Nicht immer ist aber der Aufdruck auf der Bodenplatte tatsächlich der Indikator für den Herstellungszeitpunkt. Wer sich diesem Sammelgebiet zuwenden möchte, sollte sich ein fundiertes Wissen aneignen, um sich ungetrübt an den Neuerwerbungen freuen zu können.
Schuco Varianto – das perfekte Spielerlebnis
In den Spielzeugläden tauchte die Varianto Bahn 3010 erstmals 1951 auf.
Die vorerst durch Schlüssel und Aufziehmechanismus zu bewegenden Fahrzeuge hatten keine realen Vorbilder. Personenwagen und Lastwagen waren fantasiereich, chromüberladen, aber eindeutig dem US-Design jener Zeit nachempfunden. Das lässt auf den Export Gedanken nach den USA schließen. Die alte Freundschaft zwischen Heinrich Müller und seinem, nach New York emigrierten Partner, Adolf Kahn stand sicher Pate.
Erst später kam ein VW Käfer dazu und es gab als Alternative zum Schlüssel einen Batteriebetrieb für alle Fahrzeuge.
Die Kraftübertragung besorgten die hinteren Räder. Die Lenkung erfolgte über ein mittleres Rillenleitrad. Dieses lief auf einem Spiraldrahtkabel (Fahrdraht). Fahrdrähte gab es flexibel für Kurven und starr für Geradeauslauf. Um einerseits diese Drähte fixieren zu können, andererseits den Spaß am Spiel auszubauen, gab es zahllose Möglichkeiten. Blech- bzw. Kunststoffplatten stellten verschiedene Arten von Abzweigungen und Kreuzungen, mit Schaltern regelbar dar. Beliebig erweiterbar war die Anlage durch Tankstellen, Garagen, Zollschranken, Haltepunkte, einer Start-/Stop-Stelle, einem Kiosk und einer beleuchteten Orientierungstafel mit automatischer Ausweichstelle. Elektrische oder mechanische Verkehrsampeln und Verkehrspolizisten regelten Kreuzungsbereiche, ein Zebrastreifen sicherte Fußgänger und eine Straßenbaustelle wurde abgesichert. Autobahnähnliche zweispurige Straßenstücke inkl. einer Brücke waren im Angebot.
Als reines Zubehör wurden Verkehrszeichen, Wegweiser, Tunnel, Häuser, Bogenlampen und Bäume offeriert.
Wer keine Fahrdrähte verwenden, oder ganze Landschaften aufbauen wollte, konnte mittels einer Lenkwelle seine Flitzer fortbewegen.
Bis etwa 1963 waren in Fachgeschäften Varianto- Packungen, einzelne Fahrzeuge und noch längere Zeit danach Ersatzteile wie Schlüssel und (die gern geknickten) Fahrdrähte erhältlich.
Bis heute gibt es keine Nachbauten und damit ist jedes einzelne Teil zeitauthentisch.
Schucos neuer Werkstoff – Zinkdruckguss
Die Piccolo-Modelle (1957–1969) wurden aus massivem Guss hergestellt, mit gummibereiften Metallfelgen und Achsen versehen. Die PKW- und teilweise LKW-Miniaturen waren, um zur Modellbahn Größe H0 zu passen, im Maßstab 1:90 gehalten. Die Lastwagen aber teilweise auch in 1:120. Die Vorbilder der PKW-Zwerge waren international, jene der LKW nur deutsch. Die Detailtreue ließ durch die plumpe Bauweise zu wünschen übrig und sie fügten sich nicht wirklich in eine von Märklin-Zügen und Faller-Häuschen dominierte Modellbauwelt ein. Dafür konnten diese Kleinen etwas ganz Besonderes: Meinen einzigen Piccolo hatte ich beim Spazieren am Wegrand gefunden. Was er noch an Farbe hatte, war Erdbeerrot. In der Wohnküche donnerte der Wagen über den leicht welligen Stragulaboden, jedes Mal bis an die Wandvertäfelung. Es musste ein besseres Testgelände her. Das fand sich idealerweise im Klassenzimmer. Von der Tafel bis an die hintere Wand, kein Problem, schaffte der Flitzer locker. Den Rest des Schultages verbrachte er dafür in der zur provisorischen Garage umfunktionierten Schublade des Lehrerpults.
Schuco vergab für die rund 78 Piccolo-Modelle die Seriennummern 700–801. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten drei Geschenkpackungen.
Seit 1995 werden wieder Piccolos angeboten. Die Vielfalt ist überwältigend. Aber das ist eine andere Geschichte.
Schucos in 1:66 (1969–1979)
Nimmt man (großzügig berechnet) den Bauzeitraum dieser Modellreihe mit zehn Jahren an, so ist die Anzahl an verschiedenen Fahrzeugen, deren Farbvariationen und unterschiedlichsten Aufgaben in der Werbung schlicht beeindruckend, obwohl so klein, sind sie trotzdem äußerst robust, vorbildgetreu und mit liebevollen Details gebaut. Sie waren vor einem halben Jahrhundert begehrtes Spielzeug und sind heute gesuchtes Betätigungsfeld für Sammler, Forscher und Liebhaber. Aus den 69 Basismustern lassen sich mehrere hundert unterschiedliche Exemplare zusammentragen. Nimmt man die verschiedenen Originalverpackungen dazu, reicht es für eine schöne, volle Vitrine. Schuco vergab dafür die Seriennummern 805–920. Für mich ein Plus dieser Baureihe ist, dass es bis dato keine Neu- bzw. Wiederauflagen gibt.
Die von anerkannten Fachleuten immer wieder publizierte Meinung, die Schuco 1:66 wären in Anlehnung an Matchbox entstanden, möchte ich so nicht stehen lassen. Der Start der 1:66er fällt zwar zeitlich (1969) mit der Umstellung bei Matchbox von Regular Wheels auf Superfast zusammen, die Modelle sind aber nur in Einzelfällen vergleichbar. Wer von den verehrten Leserinnen und Lesern aber gerne zusätzliche, größenmäßig und qualitativ ähnliche Modelle sammeln möchte, dem kann ich die folgenden Hersteller ans Herz legen:
Die Modelle der Siku-V Serie in 1:60 aus der Zeit von 1963–1974 sowie die nachfolgenden Modelle der 1.000er Serie (1/55 und 1/60) ab 1975.
Die 1:64er-Modelle von Lone Star Roadmaster Impy Super Cars ab 1965.
Vereinzelt gut geeignet sind Husky (1964–1970), nachfolgend Corgi Juniors ab 1970.
Natürlich gibt es noch mehrere gute Anbieter, speziell aus Italien und Frankreich.
Schucos in 1:43 (1972–1980, nach anderen Quellen 1973–1980)
Lediglich 16 Grundmodelle stellten die Basis für 36 verschiedene Katalognummern dar, darunter drei sog. Wendeautos. Es handelte sich um aktuelle Baumuster von PKWs der Fabrikate VW, Porsche, Mercedes, BMW und Audi. Diese wurden in Originalfarben der jeweiligen Autoproduzenten lackiert. Diese Miniaturen konnten zeitgleich im Spielwarenhandel und als Werbemodell im Autohandel erstanden werden. Der Unterschied lag in der Verpackung. Im Spielwarenladen luden die Modelle in Plastikverpackungen aus bunten Bodenplatten mit durchsichtigem Deckel und stirnseitiger Beschriftung zum Kauf ein. Werbemodelle sind an der bunt bedruckten Kartonverpackung zu erkennen. Von Anfang an gab es Modelle auch als Bausatz für Kinderzimmer-Ingenieure. In ihre Einzelteile zerlegbar waren aber auch alle anderen Modelle dieser Serie. Der Zauberschlüssel lag in der hinteren Stoßstange. Zog man diese (vorsichtig) heraus, löste sich das Auto in seine (zahlreichen) Einzelteile auf. Aus Restaurierungsgründen bin ich immer wieder mit dieser Thematik befasst. Ich kann glaubhaft versichern, dass es funktioniert. Aber – der Zusammenbau kann „fuchsen“.
Wer sich über mangelnde Lackqualität, schlechte Passungen bei Türen und Hauben mokiert, hat es mit späten Ausgaben nach dem Schuco-Konkurs vom November 1976 zu tun. Dies betrifft natürlich auch die Modelle der 1:66er-Baureihe.
Käufer von Schuco war das englische Dunbee-Combex-Marx Konsortium. Dieses stellte keine Qualitätsprodukte her und 1980 ging ihm die Luft aus. Bevor der neue Eigentümer, die bekannte Firma GAMA, die Fertigungsanlagen an das brasilianische Unternehmen REI verkaufte, wurden kurzzeitig 1:43er in GAMA-Verpackung ausgeliefert. Die Werkzeuge für die 1:66er hatten Europa bereits 1979 verlassen. Kooperationen beider Baugrößen gab es mit der französischen Firma Norev. Damit endet die klassische Periode der Schuco-Modelle aus Zinkdruckguss.
Da die Größe 1:43 meine große Leidenschaft darstellt, erlaube ich mir einen Nachtrag. Ab 1994 war Trix-Schuco wieder in diesem Segment tätig. Für die Markteinführung des Opel Tigra orderten die Rüsselsheimer angeblich 40.000 Stück Werbemodelle. Seit dieser Zeit gab es immer wieder aktuelle (Werbe?)Modelle, über die sich die Sammler laufend informieren sollten.
Schuco bietet aber seit Mitte der 1990er-Jahre noch etwas an, was vorher in dieser Größe nie im Programm war. Miniaturen aus Resine nach Vorbildern deutscher Klassiker von BMW, Mercedes, DKW, NSU, Glas usw.
Seit 1999 gehört Schuco zur Simba-Dikie-Group. Wir sind nun in der Gegenwart angekommen und mit Angaben zu nützlicher Literatur zum unerschöpflichen Thema Schuco möchte ich mich für das Interesse herzlich bedanken. Nicht aber ohne der ausdrücklichen Warnung – Schuco kann zu Schucomanitis, einer unheilbaren Sucht werden.