Bugatti 32 1923 - Der Aero-Tank
Autor: Text & Photos: Gerhard Schütz
«Ein Wagen bewegt sich auf der Straße nicht unter denselben Bedingungen wie ein Flugzeug in der Luft.» (Ettore Bugatti)
Dieser Satz aus einem Interview mit Ettore Bugatti beim Grand Prix von Tours ist der Schlüssel zum Bugatti 32. Der avantgardistische Wagen fällt auf den ersten Blick durch seine Vollverschalung in Form eines Flügelprofils auf, was schon mal innovativ war.
Aber fundamental neu ist noch etwas anderes, nämlich die knappe Bodenfreiheit und der verschalte, flache Unterboden. Bugatti war neben Gabriel Voisin einer der Ersten, wenn nicht der Erste, der erkannte, dass für die konzeptionelle und aerodynamische Gestaltung eines bewegten Körpers in dauerhafter Nähe zum starren Boden andere Kriterien gelten mussten als für die eines Flugzeugs, das außer bei Start und Landung gleichmäßig von Luft umgeben ist. Bugatti begann die zeittypische hochbeinige, zigarrenförmige Gestaltung eines Rennwagenkörpers in Frage zu stellen. So erklärte er in Tours einem Journalisten: «Je näher ein Fahrzeug am Boden liegt, desto geringer wird sein Luftwiderstand. Ich glaube, das kommt daher, dass der Wagen sich in ruhigerer Atmosphäre bewegt, geschützt vor Wind und vor Böen durch Hindernisse am Straßenrand (Böschungen, Bäume). Es ist allerdings sehr anspruchsvoll, ein Fahrzeug tiefer zu legen, und man braucht neue technische Lösungen.» Und neue technische Lösungen brachte der Typ 32 zuhauf. Zwei Probleme waren primär zu lösen.
Erstens: Die vorgesehene Vollverkleidung brachte Zusatzgewicht, das anderswo eingespart werden musste. Zweitens: Um die geringe Bodenfreiheit zu realisieren, mussten die zeittypischen Starrachsen oberhalb des Chassisrahmens geführt werden.
Zum Ersten: Um Gewicht zu sparen, setzte Bugatti auf einen kurzen Radstand von nur 2 m. Dies wiederum war nur machbar, wenn Fahrer und Beifahrer nicht wie üblich hinter dem Motor saßen, sondern mit den Beinen neben dem schmalen Reihen-Achtzylinder. Das hatte bei der geringen Wagenbreite (1,2 m!) zur Folge, dass das Getriebe nicht direkt nach der Kupplung angeordnet werden konnte, sondern an die Hinterachse verschoben werden musste (Transaxle). Als positiver Nebeneffekt führte das zu einer ausgewogeneren Gewichtsverteilung um die Hochachse und zur besseren Belastung der Antriebsachse. Im Verbund mit der Starrachse handelte man sich allerdings ein erhöhtes Gewicht der ungefederten Massen ein, was die Federung schlechter ansprechen lässt. Dies war aber für einen Rennwagen, der sowieso einen kleinen Federweg hat, kein großer Nachteil.
Zum Zweiten: Wenn die Starrachsen oberhalb des Chassisrahmens zu liegen kamen, fanden die Viertelelliptik-Blattfedern nicht mehr wie üblich unter der Achse Platz, sondern mussten von oben greifen. Das wiederum führte zu einer völlig neuen Chassis-Konstruktion. Zur Lagerung der obenliegenden Federn dienten «Brücken» vor der Vorder- und hinter der Hinterachse. Das Chassis war damit nicht mehr ein traditioneller, einfacher, flacher Leiterrahmen, sondern ein dreidimensionales Gebilde geworden, bestehend aus zwei Längsträgern, den beiden Brücken für die Aufnahme der Federn sowie einer Tragkonstruktion hinter dem Motor, der an dieser horizontal verschraubt und damit mittragend war. Damit wurde auch eine höhere Torsionsfestigkeit erreicht. Zusätzliche, kleine Querträger ragten zwischen den Rädern bis auf die Radaußenkante hinaus und nahmen die Karosserie auf.
Die Achsführung wurde, auch das ist eine Novität, nicht von den Federn bestritten, sondern von je zwei langen Längslenkern. So waren die flexiblen Federn von Führungsaufgaben, wozu sie eigentlich nicht geeignet sind, befreit; Achsfederung und Achsführung waren getrennt.
Beim Motor setzte Ettore Bugatti auf Bewährtes. Der erste Bugatti 8-Zylinder-Reihenmotor mit obenliegender Nockenwelle (Antrieb über eine vertikale Königswelle) debütierte 1922 im Typ 30 und wurde für den Typ 32 übernommen. Er erhielt aber zwei Rollenendlager für die Kurbelwelle sowie rollengelagerte Pleuel. Er war bewährt, aber gegenüber Konkurrenten mit zwei obenliegenden Nockenwellen nicht besonders innovativ und leistete mit maximal 100 PS nicht mehr als 1922.
Ein dritter Platz war Bugatti zu wenig Am Grand Prix von Tours fielen drei von vier Wagen aus. Die Nr. 6, Chassis 4059 mit Friderich kam auf den dritten Platz und wurde dann an die tschechische Rennfahrerin Elisabeth Junek verkauft. Bugatti verfolgte das Projekt nicht weiter und brachte mit dem sehr erfolgreichen, konventionellen Typ 35 einen Nachfolger, der sich auch als Straßen-Sportwagen eignete, was mit dem Tank nicht möglich war. Ein einziger Tank hat überlebt, Chassis 4057, der heute im Musée de l’Automobile in Mulhouse zu sehen ist. Gefahren wurde Chassis 4057 in Tours von Pierre Marco (nach Ettore Bugattis Tod 1947 Direktor der Firma). Er fiel aber früh aus. 1924 wurde mit dem Wagen beim fliegenden Kilometer in Arpajon bei Paris noch ein Rekord von 189 km/h gefahren. Er ging ans Werk zurück und war später Teil der Sammlung der Gebrüder Schlumpf. Über den Verbleib der übrigen Wagen ist bisher nichts bekannt.
Warum wurde das Konzept nicht weiterentwickelt? Als Grund wurde immer wieder das Abschneiden beim Grand Prix von Tours angeführt, dem Premièren-Rennen, das zugleich das letzte werden sollte: 3 von 4 Wagen ausgefallen, einer schaffte es auf dem dritten Platz. Aber so schlecht war das für ein Debüt nun auch wieder nicht. Der Grund dürfte vor allem ein anderer gewesen sein:
Ettore Bugatti war nicht nur ein technisches, sondern auch ein Marketing-Talent. Rennsiege förderten den Verkauf. Dafür durften sich aber die Rennwagen nicht allzusehr von den Sportwagen unterscheiden. Das radikale Konzept des Typs 32 war zu exotisch. Es war nicht alltagstauglich und auch schlecht geeignet als Statussymbol, unter anderem, weil es ihm ohne die übliche, lange Motorhaube an Boulevard-Präsenz fehlte. Mit seiner reduzierten Ponton-Form, sozusagen «Bauhaus» auf Rädern, war der Wagen zu rational, zu auffällig unauffällig. Und so sollte es dann (mit wenigen Ausnahmen) noch mehr als 30 Jahre dauern, bis es beim Rennwagenbau zu einer fundamentalen, diesmal unumkehrbaren Revolution kommen sollte: Dem Zentralmotor-Konzept. Und wieder war es ein Bugatti, der Pionierarbeit leistete: Der Typ 251 von 1956.